Sankt Martin

Als Erinnerung an ein ganz bestimmtes St. Martinsfest. Die Beteiligten wissen, was fiktiv ist ;-), aber wer sagt denn, dass sich der Rest nicht genauso abgespielt hat ... Stöhnend schmiss sich Dirk auf die Couch und tastete mit geschlossenen Augen nach der Bierflasche auf dem Tisch. Wenigstens war keine der Frauen anwesend und kommentierte seine verdreckten Klamotten. Sollte er vielleicht stehend auf dem Flur warten, bis Mark geduscht hatte? Aber eins stand fest, wenn Mark ihn das nächste Mal fragte, ob er Zeit hätte, würde er sich eine Ausrede überlegen. Irgendeine. Nach einem Schluck Bier korrigierte er sich. Vermutlich doch nicht, schließlich konnte sein Freund nichts dafür, dass Jake sich dienstlich zwei Wochen in Virginia aufhielt und Sven bereits von seiner Frau in Beschlag genommen war. Dumm gelaufen, aber trotzdem: Hätte Daniel nicht mit etwas Sprengstoff das Holz zerlegen können? Das verdammte Gartenhaus am besten gleich mit. Stundenlanges Holz hacken, schleppen und stapeln wären ihnen dann erspart geblieben. Sein Rücken meldete eine drohende Verspannung und den Gedanken an den garantiert folgenden Muskelkater verdrängte er lieber. Dabei hatte er gedacht, er wäre in Form. Er öffnete die Augen einen Spalt, suchte die Fernbedienung und fand sie. Wenige Sekunden später erklang ein Gitarrensolo von Mark Knopfler aus dem Receiver. Als Dire Straits die Story von der Telegraph Road anstimmte, spürte er, dass er nicht mehr alleine war. Zufrieden sah er aus dem Augenwinkel, dass Mark sich mit verzerrtem Gesicht den Nacken rieb und zusammenzuckte, als er sich in den Sessel fallen ließ. Sehr schön, egal wie sehr er den SEAL schätzte, es wäre ihm gegen den Strich gegangen, wenn er als Einziger fertig wäre. „Ist die Pizza im Ofen?“, erkundigte sich Dirk. „Glaubst du, ich hätte mich sonst ins Wohnzimmer getraut? Fünfzehn Minuten, dann kannst du sie holen.“ „Vergiss es, ich bin Gast, Du holst sie, Captain.“ Marks Antwort ging in einem weiteren beeindruckenden Gitarrenriff der Band unter, vermutlich war es nichts Nettes. Zufrieden griff Dirk erneut nach der Bierflasche und setzte sie fluchend ab, als sein Handy mit einer schrillen Version von Survivors ‚Burning Heart’ die Musik aus Marks Receiver störte. Natürlich wusste Mark, welchem Anrufer der Klingelton zugeordnet war. „Was will Sven um diese Zeit? Ich denke, der wurde von Britta zu einer Einkaufstour gezwungen?“ „Geh ran und frag ihn. Ich habe keine Lust, mich zu bewegen.“ Das Handy verstummte, nur um sofort wieder loszutoben. Soviel zum ruhigen Abend mit Pizza und Bier. Sven würde es nicht zweimal versuchen, wenn es nicht wichtig wäre. „Wo steckst du verdammter Idiot?“ Das war mal eine nette Begrüßung. „Bei Mark und was ist so wichtig, dass du …“ Dirk unterbrach sich und blickte entsetzt auf die Uhr. „Scheiße, das habe ich total vergessen.“ „Dachte ich mir. Du hast noch zwanzig Minuten Zeit, deinen Hintern hierher zu bewegen und dir eine Erklärung für Alex zu überlegen, warum du den Teil in der Kirche verpasst hast. Wenn du den Laternenumzug auch versäumst, werde ich dich vermissen, Partner, denn das überlebst du nie.“ Dirk gab seinem Freund Recht. Seine Frau würde ihn umbringen. Er schmiss das Handy Mark zu und rannte los. Wenigstens eine schnelle Dusche und eine Anleihe bei Marks Kleiderschrank musste drin sein. Er konnte kaum in verdreckter Tarnhose und verschwitztem Sweat-Shirt bei der St. Martinsfeier auftauchen. Mit nassen Haaren zerrte er wenige Minuten später eine von Marks Jeans und ein dunkelblaues Sweat-Shirt aus dem Schrank. Dass er dabei den halben Kleiderschrank ausräumte, interessierte ihn nicht. Im Vorbeilaufen fing er sein Handy auf, das Mark ihm zuwarf und griff nach den Autoschlüsseln auf der Kommode. Er hätte einiges zu Marks amüsiertem Blick zu sagen gehabt, aber dafür reichte die Zeit nicht. Fluchend stellte er vorm Haus fest, dass aufs Drücken der Fernbedienung nicht sein eigener Audi mit blinkenden Scheinwerfern antwortete, sondern der dunkelblaue A6 seines Freundes. Dann würde er eben den nehmen. Mit durchdrehenden Reifen schoss er aus der Grundstückseinfahrt. Kurz überlegte er, das Blaulicht aufs Dach zu pappen, aber damit erregte er im Zweifelsfall Aufsehen, das er vermeiden wollte. Mit seinem Dienstwagen hätte er das Problem nicht, aber Mark würde eventuelle Nachfragen kaum zu schätzen wissen. Mit etwas Glück wäre er auch so noch rechtzeitig bei der Kirche. Dirk hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als er scharf bremsen musste. Nicht nur, dass dieser dämliche Opelfahrer ihm die Vorfahrt genommen hatte, jetzt bummelte der Idiot auch noch mit 40 km/h die gut ausgebaute Hauptstraße entlang. Rasch scherte er aus und überholte den Fahrer, der die sechzig bereits seit langem überschritten hatte. Wenn das doch auch nur für seine Geschwindigkeit gegolten hätte! Endlich lag die Straße leer vor ihm und er gab Gas, nur um im nächsten Moment gequält aufzustöhnen. Ein Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern im Rückspiegel und es sah nicht so aus, als ob sie ihn überholen wollten. Schon blinkte der Schriftzug ‚Stop! Anhalten’ rot auf. Die Lichter im Rückspiegel schienen ihn zu verhöhnen. Damit war die Wahrscheinlichkeit, dass er die Verabredung mit seiner Familie einhalten und den Abend überleben würde, bei nahezu null angekommen. Resigniert hielt er an und sprang aus dem Audi. Einer der Polizisten hatte es anscheinend ebenso eilig zu ihm zu kommen, während der andere noch mit gerunzelter Stirn im Streifenwagen saß. „Ihren Fahrzeugschein und Ihre Papiere, bitte. Ich denke, Sie können sich vorstellen, warum wir Sie angehalten haben.“ Älter als Mitte Zwanzig war der blonde Beamte bestimmt nicht, der grimmige Gesichtsausdruck sprach Bände, aber Dirk konnte es ihm nicht verübeln. „Ja, tut mir Leid. Ich habe es eilig und bin vermutlich ein bisschen zu schnell gewesen. Aber hören Sie bitte, schreiben Sie sich einfach die Personalien auf und wir regeln das dann später. Ich gebe alles zu und bezahle für den Scheiß, aber jetzt muss ich dringend weiter.“ Die blonde, buschige Augenbraue des Polizeibeamten, Wagner laut Namensschild, wanderte in Zeitlupe hoch. „Wollen Sie mir erklären, wie ich meinen Job zu machen habe?“ „Nein, natürlich nicht, aber ich bin selbst …“ Dirk kam nicht dazu, seine Tätigkeit fürs LKA zu erwähnen. Deutlich misstrauisch kam der zweite Polizist auf sie zu und beleuchtete die Kennzeichen des A6 mit einer Taschenlampe. „Ich bekomme keine Antwort vom Computer. Entweder existiert das Kennzeichen nicht, oder es ist eine Fälschung. Ich weiß auch nicht.“ Der Schein der Lampe wanderte kurz über Dirks Gesicht, der sich sofort die Hand vor die Augen hielt. „Hey, das blendet. Jetzt hört doch bitte, zu ich …“ „Seit wann, duzen wir uns?“, erkundigte sich Wagner unterkühlt. Anscheinend war das der Abend der Entschuldigungen und egal, was er sagte, es kam verkehrt an. Normalerweise war das kollegiale Du durchaus üblich, aber vermutlich bekäme er erst eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung, ehe er endlich seine Zugehörigkeit zum LKA erklären konnte. „Entschuldigung, aber ich bin …“ Wieder wurde er unterbrochen. „Mensch, Michael, sieh dir das an.“ Im Licht der Taschenlampe erkannte Dirk, dass der Polizist verständnislos auf die verdreckten Tarnklamotten und Kampfstiefel vor dem Rücksitz starrte. Erstmals hatte Dirk Verständnis für Lauras ständige Beschwerden, dass ihr Mann seine Sachen überall herumliegen ließ. Er konnte das Misstrauen der Polizisten beinahe nachvollziehen. Wieder wurde die Taschenlampe auf ihn gerichtet und geblendet schloss er die Augen, folgte dann dem Strahl und stöhnte auf, als er merkte, dass Marks Pulli einen riesigen US Navy Schriftzug auf der Brust hatte. Vermutlich hielten sie ihn für einen Rechtsradikalen. „Ihre Papiere, jetzt.“ „Na, endlich. Vielleicht verstehen Sie dann, dass ich ein Kollege von Ihnen bin.“ Automatisch griff Dirk in die Tasche seiner Jeans und fluchte. Seine Brieftasche und damit sein LKA-Ausweis lagen noch in Marks Badezimmer auf dem Wandregal. Großartig. „Scheiße. Die liegen noch im Badezimmer eines Freundes.“ „Das wird ja immer interessanter. Vermutlich gefälschte Kennzeichen, sehr eigenwillige Fahrweise und eine Fahne haben Sie auch.“ „Die Halterabfrage ist doch nur gesperrt, keine Ahnung, was euer Ihr Computer damit für ein Problem hat. Ich habe lediglich eine halbe Flasche Bier getrunken, dann hat mein Partner mich angerufen und mich an den Termin im Kindergarten erinnert. Ich bin einfach nur noch in den Wagen gesprungen und habe versucht, die Kirche rechtzeitig zu erreichen.“ „Freund? Partner? Kindergarten? So, so. Sind Sie mit einem Alkoholtest einverstanden?“ Der Blick des Polizisten sprach für sich und Dirk musste zugeben, dass seine Erklärung etwas wirr klang. „Ja, meinetwegen machen wir den Test. Ich meine meinen Partner beim LKA Hamburg und bitte beeilen Sie sich.“ „LKA? Warum nicht gleich BKA? Ganz wie der Herr wünscht und in der Zwischenzeit öffnen Sie bitte den Kofferraum.“ Bloß das nicht, Dirk hatte keine Vorstellung, was sein Freund im Kofferraum aufbewahrte, vermutlich wie üblich ein halbes Waffenarsenal. „Muss das sein?“ Wagners Hand wanderte Richtung Waffe an seinem Gürtel. Das war auch eine Antwort. „Könnte ich kurz mit der Leitstelle sprechen? Die können Ihnen meine Identität bestätigen.“ Als Wagner die Stirn runzelte, präzisiert Dirk sofort. „Natürlich nicht die Kollegen dort, aber die könnten mich verbinden und …“ „Erst öffnen Sie den Kofferraum und dann sehen wir weiter.“ Seufzend gab Dirk auf. Auf den ersten Blick war der Anblick, der sich ihm und den Polizisten bot, harmlos und er stieß die angehaltene Luft aus. Bei seinem Glück hätte es ihn nicht gewundert, wenn dort zwei Stinger-Raketen gelegen hätten, stattdessen lediglich eine Decke und eine leere Getränkekiste. Leider gehörte Wagner zur gründlichen Sorte Polizist. Er zog seine Handschuhe an, fuhr mit der Hand misstrauisch über den Boden und schob dann den Teppich zur Seite. Eine Stahlplatte mit einem Zahlenschloss wurde sichtbar. „Was ist das?“, wollte er wissen. „Das geht Sie nichts an. Es reicht langsam. Ich gebe zu, dass ich zu schnell unterwegs und ohne Papiere unterwegs war. Ich bin gerne bereit, alles zu unterschreiben, aber jetzt reicht es. Ohne gültigen Durchsuchungsbeschluss bin ich nicht verpflichtet, Ihnen den Kasten zu öffnen.“ „Zweifel an der Identität, aggressives Verhalten, eindeutig ein begründeter Verdacht und möglicherweise Gefahr im Verzuge. Öffnen oder wir beschlagnahmen das Fahrzeug.“ „Scheiße, Kollegen, das gibt Ärger.“ Allerdings wusste Dirk noch nicht für wen. Im Moment verfluchte er von Mark, der einen Teil seiner Waffen üblicherweise im Audi aufbewahrte, bis hin zu Sven, der ihn zu spät an die Scheißveranstaltung erinnert hatte, alle und jeden. Zähneknirschend gab er die korrekte Kombination ein und trat zur Seite. „Die können Sie selbst aufmachen.“ Dirk trat zurück und beobachtete, wie sich Fassungslosigkeit gefolgt von vermeintlichem Begreifen auf dem Gesicht des jungen Polizisten spiegelte, dessen Hand bereits zur Waffe an seinem Gürtel fuhr. Allmählich reichte es Dirk. „Ganz langsam. Ich bin unbewaffnet und habe für den Kram eine Erlaubnis. Meinetwegen legen Sie mir Handschellen an, wenn Sie Angst haben, ich gehe auf Sie los, aber lassen Sie mich endlich mit der Leitstelle reden und das Missverständnis aufklären.“ „Das ist eine MP5, Munition, eine Polizeiweste und eine andere Weste“, zählte Wagner überflüssigerweise auf. „Stimmt und wenn Sie die Westen zur Seite schieben, können Sie auch noch ein G-36 Sturmgewehr bewundern, lediglich das verdammte PSG 1 fehlt. Darf ich jetzt endlich telefonieren? Und vielleicht verstehen Sie jetzt, warum die Daten im Polizeicomputer gesperrt sind.“ Endlich drang er durch. Mit einer unsicher wirkenden Geste strich sich Wagner die Haare zurück. „Gut, Bernd, er soll seine Chance bekommen. Halt ihn im Schach, während er mit der Leitstelle telefoniert.“ „Na endlich.“ Unbeeindruckt von der auf ihn gerichteten Waffe ging Dirk zum Streifenwagen und griff zum Funkgerät. Nachdem er vor seinen aufmerksamen Zuhörern seinen Namen genannt hatte, sich zusätzlich durch eine Ziffernfolge identifiziert und zwei Kontrollfragen richtig beantwortet hatte, wurde er endlich mit dem Hamburger Polizeipräsidenten verbunden. Ein scharfes Luftholen hinter ihm verschaffte Dirk eine gewisse Befriedigung. Bereits nach dem zweiten Klingeln meldete sich die tiefe Stimme seines Vorgesetzen. „Richter hier. Entschuldigen Sie bitte, die Störung. Herr Tannhäuser.“ Es war eindeutig der Abend der Entschuldigungen und das bereits bevor er seiner Frau unter die Augen getreten war. „Einige Kollegen haben mich im Rahmen einer Verkehrskontrolle angehalten. Leider bin ich ohne Papiere, dafür mit interessantem Kofferrauminhalt unterwegs. Ehe ich die Nacht in U-Haft verbringe, wäre es nett, wenn Sie meine Identität bestätigen würden.“ „Was transportieren Sie denn in Ihrem Kofferraum?“ Anscheinend wollte sein Chef es ihm nicht einfach machen. „Ich bin im A6 eines amerikanischen Kollegen unterwegs.“ Mehr würde er über die unsichere Leitung nicht Preis geben, schließlich entsprach der Sicherheitsstandard des deutschen Polizeifunks dem des albanischen Netzes. Das leise Lachen, das er sonst durchaus sympathisch fand, verriet, dass Tannhäuser bereits ungefähr ahnte, in welcher Klemme Dirk steckte. „Auf die Erklärung bin ich gespannt, Herr Richter. Meine Frau vermutlich auch, denn der erste Akt der Oper beginnt gerade ohne mich.“ „Fragen Sie Sven, es sieht nicht so aus, als ob ich Montag lebend im Büro auftauchen würde.“ Mist, den Kommentar hätte er sich besser verkniffen. Kurzes Schweigen, dann die ernste Nachfrage. „Probleme?“ „Nein, nichts Ernstes, aber Sie kennen ja Alex. Ich habe einen Termin beim Kindergarten vergessen und bin deshalb ein wenig schnell unterwegs gewesen.“ Er blickte auf die Uhr und seufzte. „Jetzt ist es eh zu spät. In zwei Minuten schaffe ich das nie.“ Er bedankte sich und beendet das Gespräch. Wenigstens war die Waffe nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern die beiden Beamten sahen ihn abwartend an. Erstmals konnte er das Namensschild des zweiten Polizisten erkennen, Berg, etwas älter als sein Kollege und mit auffällig roten Haaren, die an Pat erinnerten. Er schien äußerst nachdenklich zu sein. Das Schweigen breitete sich aus und Dirk wusste nicht, was er noch sagen sollte. Außer einer Reihe Flüche auf Englisch und Deutsch fiel ihm nichts ein. Schließlich atmete er tief durch und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Seine Lederjacke lag natürlich auch in seinem eigenen Wagen. „Also gut, nachdem jetzt hoffentlich sicher ist, dass ich kein verkappter Terrorist bin, notieren Sie sich bitte meine Personalien und dann sehe ich zu, dass ich meine Familie finde.“ Berg legte den Kopf zur Seite und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dirk befürchtete Böses und hob abwehrend eine Hand. „Sekunde, Kollegen, jetzt kommt mir nicht und kassiert den Lappen ein, so schnell bin ich nicht gefahren und den Alkoholtest können wir gerne noch machen.“ Berg ignorierte Dirks Erklärung, sondern wandte sich an Wagner. „Denkst du dasselbe wie ich?“ „Ja.“ Wagner schloss mit einem entschiedenen Knall den Kofferraum des Audis. „Hau schon ab. Mal sehen, ob wir nicht was für dich tun können.“ Verblüfft versuchte Dirk den Sinneswandel zu verstehen. „Was soll das denn jetzt?“ „Deine gefahrene Geschwindigkeit wäre eh nur eine grobe Schätzung unsererseits und es gefällt mir, dass du hier nicht den LKA-Typen oder Spezialeinheiten-Heini rauskehrst. Schönen Abend noch.“ Wagner lächelte boshaft. „Und viel Spaß mit deiner Frau.“ Berg telefonierte auf seinem Handy und winkte Dirk lediglich zu. „Danke. Mal sehen, wie ich mich revanchieren kann.“ Neben einer Flasche Whisky für Tannhäuser war mindestens eine Packung Donuts für die Kollegen fällig. Aber darüber konnte er später nachdenken, erstmals musste er wohl oder übel versuchen, den Abend irgendwie zu retten. Verständnislos bremste er den Audi ab. Eine Menschenmenge hielt sich auf dem Parkplatz am Ende der Sackgasse auf. Zwei Streifenwagen und ein nervös tänzelndes Pferd zeigten, dass aus irgendwelchen Gründen der Umzug noch nicht begonnen hatte. Das Parkverbotschild ignorierte Dirk und sprang aus dem Wagen. Zwei Polizisten hockten vor einem alten Mazda und kratzten gerade die Plakette ab, direkt daneben Sven, der nicht besonders erfreut auf die Beiden einredete. Dirk kam nicht dazu, seinen Freund zu begrüßen. Mit einem Freudenschrei stürzte sich sein Sohn in seine Arme und er konnte gerade noch die wild schwankende Laterne davor bewahren, in Flammen aufzugehen. Den wütend funkelten Blick seiner Frau übersah er besser und drückte den begeisterten Jungen an sich. Alleine dafür hatte sich der Stress mit den Kollegen gelohnt. Einer der uniformierten Polizisten stand auf und grinste ihn an. „US Navy? Nettes Outfit fürs LKA. Da die Beschreibung stimmt, können wir wohl darauf verzichten, unter weiteren Vorwänden die Fahrzeuge hier zu kontrollieren.“ Wesentlich leiser als vorher, fuhr er fort. „Ein Glück, dass du endlich da bist, noch zwei Minuten länger und entweder der Blonde oder die Frau da drüben wäre auf mich losgegangen.“ Dirk lachte. „Der Blonde ist mein Partner und das andere meine Frau.“ Lächelnd gingen die Polizisten zu ihrem Streifenwagen und gaben das Startsignal. Sven sah ihn ratlos an. „Dafür ist eine verdammt gute Erklärung fällig: Wie hast du es geschafft, den ganzen Zug um 10 Minuten aufzuhalten?“ Sein Freund warf ihm seinen Autoschlüssel zu. „Meine Lederjacke liegt im Wagen. Hol sie dir, ehe du erfrierst oder noch mehr Reklame fürs amerikanische Militär machst.“ Erst jetzt bemerkte Dirk die neue Jacke seines Freundes, aber Svens Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er darüber nicht sprechen wollte. Da Dirk kaum den Abend mit Tim auf dem Arm als Schutz gegen die Nachtkälte verbringen konnte, lief er zum BMW seines Freundes und holte sich Svens alte Jacke. Kaum hielt er die reichlich abgestoßene Jacke in der Hand, verlangte sein Sohn auch schon energisch danach losgelassen zu werden. „Netten Einkaufsbummel gehabt?“, erkundigte sich Dirk leise, als er Sven den Schlüssel zurückgab. „Halt die Klappe. Lieber vier Stunden Holz hacken, als mit der eigenen Frau einzukaufen.“ „Sicher?“ Sie wechselten ein grimmiges Lächeln, verkniffen sich aber weitere Kommentare, da sich ihre Frauen näherten. Rasch zog Dirk Alex an sich. „Na, wieder beruhigt? Komm schon, Schatz, wir haben bis zum Umfallen geschuftet.“ Zunächst erwiderte Alex die Umarmung, dann machte sie sich energisch los. „Vermutlich hat Sven dich von der Couch hochgejagt, oder?“ Damit war Alex der Wahrheit entschieden zu nahe gekommen. „Wollt ihr nicht mitsingen? Ich denke, ihr kennt die Texte?“ Themenwechsel geglückt, aber bei den Blicken von Alex und Britta dachte er unwillkürlich an schusssichere Westen. Zum Glück setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Zum ersten Mal sah er den Reiter, der als St. Martin den Zug anführen sollte. Irritiert blinzelte er, aber der Anblick veränderte sich nicht. Sven folgte seinem Blick und lachte leise. „Das glaube ich nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, da steckt Pat oder einer der Jungs hinter. St. Martin als Teenager, meinetwegen, aber mit einem Reiterhelm, den die amerikanische Flagge schmückt? Ich weiß nicht …“ Leise fing Sven an, die amerikanische Nationalhymne zu pfeifen, und Dirk erstickte beinahe an seinem unterdrückten Lachen. Da die Kinder gerade begeistert ein Laternenlied anstimmten, würde er vermutlich gelyncht werden, wenn er laut loslachte. Dann verging ihm jeder Heiterkeitsausbruch und seine Hand schoss vor. Sekundenbruchteile, ehe Sven dazwischen gehen konnte. Eine Frau um die Vierzig hatte nichts Besseres zu tun, als während des Laternenumzugs zu rauchen. Das alleine wäre zwar ärgerlich, aber kein Problem. Die glühende Zigarette nur Millimeter von Tims Gesicht entfernt, war hingegen ein ernsthaftes Problem, das er mit einem leichten Schlag gegen ihren Arm beendete. Die Frau sah ihn wütend an. „Das ist ein Kinderumzug und das war mein Sohn, dem Sie gerade fast die Asche ins Gesicht gedrückt hätten.“ Der Blick der Frau flog Hilfe suchend zu einer der Begleitpersonen, die mit Warnwesten bekleidet, den Zug absicherten. Schlechte Wahl, der Polizist hatte den Vorfall verfolgt. „Probleme, Kollege?“, wandte er sich demonstrativ an Dirk. „Nein, ich denke, wir haben unseren Standpunkt klar gemacht.“ Sollte seine Erklärung nicht ausreichen, so war Svens Miene geeignet, jedem Angst einzuflößen, der nicht mindestens die Ausmaße von Fox, dem zwei Meter großen und hundert Kilo schweren Senior Chief in Marks Team hatte. Die Frau mochte vielleicht gewichtmäßig mit Fox mithalten, war aber mindestens zwei Köpfe kleiner. Die Frau stotterte eine grammatikalisch falsche Entschuldigung und verschwand an der linken Flanke des Zuges. Wenigstens hatte Dirk das Wohlwollen seiner Frau zurückerobert. „Den Arm hättest du ihr ruhig brechen können.“ „Beim nächsten Mal, versprochen.“ Ohne weitere Zwischenfälle legten sie den nächsten Kilometer zurück. Die Kinder genossen den Spaziergang mit den Laternen in der Menge und trotz der Dunkelheit erkannte man ihre strahlenden Augen. Dirk begann den Umzug beinahe zu genießen, als Sven nach vorne sprang und seinen Sohn in letzter Sekunde an der Kapuze zu fassen bekam. Eine Frau mit Kinderwagen schob sich ohne Rücksicht auf Erwachsene oder Kinder diagonal durch das Teilnehmerfeld und Dirk überlegte ernsthaft, die Frau von hinten umzugrätschen. Entweder war sie besoffen oder hemmungslos gedankenlos, was in seinen Augen identisch mit egoistisch wäre. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie nach einer Viertelstunde wieder das Kindergartengelände. Soweit er sich an das Programm erinnerte, sollten jetzt Punsch und Würstchen auf dem Programm stehen. Beides konnte er gut gebrauchen. Wenigstens hatte Alex offensichtlich gerührt vom Anblick der begeisterten Kinder bereits nach seiner Hand getastet und ihre Mordgedanken hoffentlich endgültig begraben. Auf dem Spielplatz des Kindergartens war bereits das St. Martinsfeuer in Gange. Vermutete Dirk es jedenfalls, Einzelheiten konnte er nicht erkennen. Etliche Erwachsene versperrten die Sicht und damit den Kindern die Gelegenheit, ans Feuer zu gelangen. Vor allem die Beiden direkt vor ihm, mit den körperlichen Ausmaßen von Urmenschen, die ohne Kinder dort standen, fielen ihm negativ auf. „Einige Erwachsene haben anscheinend noch nie ein Feuer gesehen“, beschwerte sich Sven lautstark, doch sein Sarkasmus war vergeblich, wurde gezielt überhört oder ignoriert. Sowohl Sven als auch Alex sahen aus, als ob ein Temperamentsausbruch kurz bevor stand. Das hatte ihm noch gefehlt. Energisch schob er seinen Freund zur Seite und tippte der Frau auf die Schulter. Mit Mühe bekam er einen annähernd freundlichen Ton hin: „Unsere Kinder würden gerne das Feuer sehen.“ Na also, es ging doch, die Neandertaler traten zur Seite und die Kinder stürmten ans Feuer. Aufatmend verfolgte Dirk die reichlich missglückte Gesangsrunde und wartete auf das Startsignal für Würstchen und Punsch. Seine Frau schien seinen Gedanken erraten zu haben. „Kein Würstchen! Dann wollen die Kinder auch eins und essen nichts mehr zu Abend.“ Ehe Dirk protestieren konnte, zog ihn Sven zur Seite. „Komm wir holen Punsch.“ Die Garage, die zum Würstchen-Punsch-Stand umfunktioniert war, wurde bereits belagert. Eine geordnete Warteschlange gab es nicht. Aber dank der SEALs kannten sie sich mit strategischen Winkelzügen aus. Was für den militärischen Bereich galt, zeigte auch hier seine Wirkung und innerhalb von wenigen Sekunden hatten sie sich über die rechte Flanke an den Ausgabetresen vorgearbeitet. Misstrauisch versuchte Dirk, den Punsch anhand des Geruchs zu identifizieren. Vergeblich. Jeweils mit zwei Bechern in der Hand kehrten sie zu ihren Familien zurück. Erwartungsgemäß begann sein Sohn sofort mit einer Diskussion, warum es kein Würstchen gab. Seine Frau ignorierte seinen vorwurfsvollen Blick und lenkte Tim pädagogisch wertvoll mit einer Flasche Apfelschorle ab. Wenigstens blieb ihm noch der Punsch. Erwartungsvoll nippte er an dem heißen Getränk und fluchte, als er sich die Zunge verbrannte. Außer nach heißem Wasser schmeckte das Zeug nach überhaupt nichts und von Alkohol weit und breit keine Spur. Ein geglückter Abschluss des Abends, zumal es immer kälter wurde und jetzt jede Hoffnung auf Wärme von Innen verschwand. „Komm lass uns verschwinden“, beschloss Sven und schüttete das mühsam erkämpfte , aber geschmacklose Heißgetränk in den nächsten Busch. Langsam nickte Dirk. Wenn die strahlenden Kinderaugen nicht gewesen wären, hätte er den Abend komplett abgeschrieben, aber so blieb wenigstens ein positiver Aspekt. „Worüber denkst du nach?“ „Darüber, was mich der Abend gekostet hat. St. Martin hat nur seinen Mantel geteilt, ich mein Geld. Das war ein ganz schön teurer Abend.“ „Was meinst du? Den Punsch habe ich bezahlt.“ „Für Tannhäuser ist eine Flasche Whisky fällig und für die Kollegen von der Polizei eine Ladung Donuts. Den Sonntag kann ich auch abschreiben, ich glaube nicht, dass ich morgen von der Couch hochkomme. Und Alex hat garantiert eine kostspielige Idee, wie ich meine Vergesslichkeit wiedergutmachen kann.“ Lachend legte Sven ihm einen Arm um die Schulter. „Du kannst einem echt Leid tun. Komm, wir verschwinden. Erzähl mir auf dem Weg zum Wagen lieber, wie du es geschafft hast, den St. Martinsumzug aufzuhalten.“ „Das war eine Art Wiedergutmachung, weil die Kollegen mich erst für einen Neonazi, dann für einen Schwulen und schließlich für einen Terroristen gehalten haben.“ „Schwul?“ „Ja, als ich meinen Partner erwähnt habe. Ich habe ja nix gegen homosexuelle Beziehungen, aber wir …“ Sven zog seinen Arm so rasch zurück, dass Dirk laut loslachte. Der weitere Verlauf des Abends versprach eine deutliche Besserung. © Stefanie Ross, 2013
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Sankt Martin

Als Erinnerung an ein ganz bestimmtes St. Martinsfest. Die Beteiligten wissen, was fiktiv ist ;-), aber wer sagt denn, dass sich der Rest nicht genauso abgespielt hat ... Stöhnend schmiss sich Dirk auf die Couch und tastete mit geschlossenen Augen nach der Bierflasche auf dem Tisch. Wenigstens war keine der Frauen anwesend und kommentierte seine verdreckten Klamotten. Sollte er vielleicht stehend auf dem Flur warten, bis Mark geduscht hatte? Aber eins stand fest, wenn Mark ihn das nächste Mal fragte, ob er Zeit hätte, würde er sich eine Ausrede überlegen. Irgendeine. Nach einem Schluck Bier korrigierte er sich. Vermutlich doch nicht, schließlich konnte sein Freund nichts dafür, dass Jake sich dienstlich zwei Wochen in Virginia aufhielt und Sven bereits von seiner Frau in Beschlag genommen war. Dumm gelaufen, aber trotzdem: Hätte Daniel nicht mit etwas Sprengstoff das Holz zerlegen können? Das verdammte Gartenhaus am besten gleich mit. Stundenlanges Holz hacken, schleppen und stapeln wären ihnen dann erspart geblieben. Sein Rücken meldete eine drohende Verspannung und den Gedanken an den garantiert folgenden Muskelkater verdrängte er lieber. Dabei hatte er gedacht, er wäre in Form. Er öffnete die Augen einen Spalt, suchte die Fernbedienung und fand sie. Wenige Sekunden später erklang ein Gitarrensolo von Mark Knopfler aus dem Receiver. Als Dire Straits die Story von der Telegraph Road anstimmte, spürte er, dass er nicht mehr alleine war. Zufrieden sah er aus dem Augenwinkel, dass Mark sich mit verzerrtem Gesicht den Nacken rieb und zusammenzuckte, als er sich in den Sessel fallen ließ. Sehr schön, egal wie sehr er den SEAL schätzte, es wäre ihm gegen den Strich gegangen, wenn er als Einziger fertig wäre. „Ist die Pizza im Ofen?“, erkundigte sich Dirk. „Glaubst du, ich hätte mich sonst ins Wohnzimmer getraut? Fünfzehn Minuten, dann kannst du sie holen.“ „Vergiss es, ich bin Gast, Du holst sie, Captain.“ Marks Antwort ging in einem weiteren beeindruckenden Gitarrenriff der Band unter, vermutlich war es nichts Nettes. Zufrieden griff Dirk erneut nach der Bierflasche und setzte sie fluchend ab, als sein Handy mit einer schrillen Version von Survivors ‚Burning Heart’ die Musik aus Marks Receiver störte. Natürlich wusste Mark, welchem Anrufer der Klingelton zugeordnet war. „Was will Sven um diese Zeit? Ich denke, der wurde von Britta zu einer Einkaufstour gezwungen?“ „Geh ran und frag ihn. Ich habe keine Lust, mich zu bewegen.“ Das Handy verstummte, nur um sofort wieder loszutoben. Soviel zum ruhigen Abend mit Pizza und Bier. Sven würde es nicht zweimal versuchen, wenn es nicht wichtig wäre. „Wo steckst du verdammter Idiot?“ Das war mal eine nette Begrüßung. „Bei Mark und was ist so wichtig, dass du …“ Dirk unterbrach sich und blickte entsetzt auf die Uhr. „Scheiße, das habe ich total vergessen.“ „Dachte ich mir. Du hast noch zwanzig Minuten Zeit, deinen Hintern hierher zu bewegen und dir eine Erklärung für Alex zu überlegen, warum du den Teil in der Kirche verpasst hast. Wenn du den Laternenumzug auch versäumst, werde ich dich vermissen, Partner, denn das überlebst du nie.“ Dirk gab seinem Freund Recht. Seine Frau würde ihn umbringen. Er schmiss das Handy Mark zu und rannte los. Wenigstens eine schnelle Dusche und eine Anleihe bei Marks Kleiderschrank musste drin sein. Er konnte kaum in verdreckter Tarnhose und verschwitztem Sweat-Shirt bei der St. Martinsfeier auftauchen. Mit nassen Haaren zerrte er wenige Minuten später eine von Marks Jeans und ein dunkelblaues Sweat-Shirt aus dem Schrank. Dass er dabei den halben Kleiderschrank ausräumte, interessierte ihn nicht. Im Vorbeilaufen fing er sein Handy auf, das Mark ihm zuwarf und griff nach den Autoschlüsseln auf der Kommode. Er hätte einiges zu Marks amüsiertem Blick zu sagen gehabt, aber dafür reichte die Zeit nicht. Fluchend stellte er vorm Haus fest, dass aufs Drücken der Fernbedienung nicht sein eigener Audi mit blinkenden Scheinwerfern antwortete, sondern der dunkelblaue A6 seines Freundes. Dann würde er eben den nehmen. Mit durchdrehenden Reifen schoss er aus der Grundstückseinfahrt. Kurz überlegte er, das Blaulicht aufs Dach zu pappen, aber damit erregte er im Zweifelsfall Aufsehen, das er vermeiden wollte. Mit seinem Dienstwagen hätte er das Problem nicht, aber Mark würde eventuelle Nachfragen kaum zu schätzen wissen. Mit etwas Glück wäre er auch so noch rechtzeitig bei der Kirche. Dirk hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als er scharf bremsen musste. Nicht nur, dass dieser dämliche Opelfahrer ihm die Vorfahrt genommen hatte, jetzt bummelte der Idiot auch noch mit 40 km/h die gut ausgebaute Hauptstraße entlang. Rasch scherte er aus und überholte den Fahrer, der die sechzig bereits seit langem überschritten hatte. Wenn das doch auch nur für seine Geschwindigkeit gegolten hätte! Endlich lag die Straße leer vor ihm und er gab Gas, nur um im nächsten Moment gequält aufzustöhnen. Ein Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern im Rückspiegel und es sah nicht so aus, als ob sie ihn überholen wollten. Schon blinkte der Schriftzug ‚Stop! Anhalten’ rot auf. Die Lichter im Rückspiegel schienen ihn zu verhöhnen. Damit war die Wahrscheinlichkeit, dass er die Verabredung mit seiner Familie einhalten und den Abend überleben würde, bei nahezu null angekommen. Resigniert hielt er an und sprang aus dem Audi. Einer der Polizisten hatte es anscheinend ebenso eilig zu ihm zu kommen, während der andere noch mit gerunzelter Stirn im Streifenwagen saß. „Ihren Fahrzeugschein und Ihre Papiere, bitte. Ich denke, Sie können sich vorstellen, warum wir Sie angehalten haben.“ Älter als Mitte Zwanzig war der blonde Beamte bestimmt nicht, der grimmige Gesichtsausdruck sprach Bände, aber Dirk konnte es ihm nicht verübeln. „Ja, tut mir Leid. Ich habe es eilig und bin vermutlich ein bisschen zu schnell gewesen. Aber hören Sie bitte, schreiben Sie sich einfach die Personalien auf und wir regeln das dann später. Ich gebe alles zu und bezahle für den Scheiß, aber jetzt muss ich dringend weiter.“ Die blonde, buschige Augenbraue des Polizeibeamten, Wagner laut Namensschild, wanderte in Zeitlupe hoch. „Wollen Sie mir erklären, wie ich meinen Job zu machen habe?“ „Nein, natürlich nicht, aber ich bin selbst …“ Dirk kam nicht dazu, seine Tätigkeit fürs LKA zu erwähnen. Deutlich misstrauisch kam der zweite Polizist auf sie zu und beleuchtete die Kennzeichen des A6 mit einer Taschenlampe. „Ich bekomme keine Antwort vom Computer. Entweder existiert das Kennzeichen nicht, oder es ist eine Fälschung. Ich weiß auch nicht.“ Der Schein der Lampe wanderte kurz über Dirks Gesicht, der sich sofort die Hand vor die Augen hielt. „Hey, das blendet. Jetzt hört doch bitte, zu ich …“ „Seit wann, duzen wir uns?“, erkundigte sich Wagner unterkühlt. Anscheinend war das der Abend der Entschuldigungen und egal, was er sagte, es kam verkehrt an. Normalerweise war das kollegiale Du durchaus üblich, aber vermutlich bekäme er erst eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung, ehe er endlich seine Zugehörigkeit zum LKA erklären konnte. „Entschuldigung, aber ich bin …“ Wieder wurde er unterbrochen. „Mensch, Michael, sieh dir das an.“ Im Licht der Taschenlampe erkannte Dirk, dass der Polizist verständnislos auf die verdreckten Tarnklamotten und Kampfstiefel vor dem Rücksitz starrte. Erstmals hatte Dirk Verständnis für Lauras ständige Beschwerden, dass ihr Mann seine Sachen überall herumliegen ließ. Er konnte das Misstrauen der Polizisten beinahe nachvollziehen. Wieder wurde die Taschenlampe auf ihn gerichtet und geblendet schloss er die Augen, folgte dann dem Strahl und stöhnte auf, als er merkte, dass Marks Pulli einen riesigen US Navy Schriftzug auf der Brust hatte. Vermutlich hielten sie ihn für einen Rechtsradikalen. „Ihre Papiere, jetzt.“ „Na, endlich. Vielleicht verstehen Sie dann, dass ich ein Kollege von Ihnen bin.“ Automatisch griff Dirk in die Tasche seiner Jeans und fluchte. Seine Brieftasche und damit sein LKA-Ausweis lagen noch in Marks Badezimmer auf dem Wandregal. Großartig. „Scheiße. Die liegen noch im Badezimmer eines Freundes.“ „Das wird ja immer interessanter. Vermutlich gefälschte Kennzeichen, sehr eigenwillige Fahrweise und eine Fahne haben Sie auch.“ „Die Halterabfrage ist doch nur gesperrt, keine Ahnung, was euer Ihr Computer damit für ein Problem hat. Ich habe lediglich eine halbe Flasche Bier getrunken, dann hat mein Partner mich angerufen und mich an den Termin im Kindergarten erinnert. Ich bin einfach nur noch in den Wagen gesprungen und habe versucht, die Kirche rechtzeitig zu erreichen.“ „Freund? Partner? Kindergarten? So, so. Sind Sie mit einem Alkoholtest einverstanden?“ Der Blick des Polizisten sprach für sich und Dirk musste zugeben, dass seine Erklärung etwas wirr klang. „Ja, meinetwegen machen wir den Test. Ich meine meinen Partner beim LKA Hamburg und bitte beeilen Sie sich.“ „LKA? Warum nicht gleich BKA? Ganz wie der Herr wünscht und in der Zwischenzeit öffnen Sie bitte den Kofferraum.“ Bloß das nicht, Dirk hatte keine Vorstellung, was sein Freund im Kofferraum aufbewahrte, vermutlich wie üblich ein halbes Waffenarsenal. „Muss das sein?“ Wagners Hand wanderte Richtung Waffe an seinem Gürtel. Das war auch eine Antwort. „Könnte ich kurz mit der Leitstelle sprechen? Die können Ihnen meine Identität bestätigen.“ Als Wagner die Stirn runzelte, präzisiert Dirk sofort. „Natürlich nicht die Kollegen dort, aber die könnten mich verbinden und …“ „Erst öffnen Sie den Kofferraum und dann sehen wir weiter.“ Seufzend gab Dirk auf. Auf den ersten Blick war der Anblick, der sich ihm und den Polizisten bot, harmlos und er stieß die angehaltene Luft aus. Bei seinem Glück hätte es ihn nicht gewundert, wenn dort zwei Stinger-Raketen gelegen hätten, stattdessen lediglich eine Decke und eine leere Getränkekiste. Leider gehörte Wagner zur gründlichen Sorte Polizist. Er zog seine Handschuhe an, fuhr mit der Hand misstrauisch über den Boden und schob dann den Teppich zur Seite. Eine Stahlplatte mit einem Zahlenschloss wurde sichtbar. „Was ist das?“, wollte er wissen. „Das geht Sie nichts an. Es reicht langsam. Ich gebe zu, dass ich zu schnell unterwegs und ohne Papiere unterwegs war. Ich bin gerne bereit, alles zu unterschreiben, aber jetzt reicht es. Ohne gültigen Durchsuchungsbeschluss bin ich nicht verpflichtet, Ihnen den Kasten zu öffnen.“ „Zweifel an der Identität, aggressives Verhalten, eindeutig ein begründeter Verdacht und möglicherweise Gefahr im Verzuge. Öffnen oder wir beschlagnahmen das Fahrzeug.“ „Scheiße, Kollegen, das gibt Ärger.“ Allerdings wusste Dirk noch nicht für wen. Im Moment verfluchte er von Mark, der einen Teil seiner Waffen üblicherweise im Audi aufbewahrte, bis hin zu Sven, der ihn zu spät an die Scheißveranstaltung erinnert hatte, alle und jeden. Zähneknirschend gab er die korrekte Kombination ein und trat zur Seite. „Die können Sie selbst aufmachen.“ Dirk trat zurück und beobachtete, wie sich Fassungslosigkeit gefolgt von vermeintlichem Begreifen auf dem Gesicht des jungen Polizisten spiegelte, dessen Hand bereits zur Waffe an seinem Gürtel fuhr. Allmählich reichte es Dirk. „Ganz langsam. Ich bin unbewaffnet und habe für den Kram eine Erlaubnis. Meinetwegen legen Sie mir Handschellen an, wenn Sie Angst haben, ich gehe auf Sie los, aber lassen Sie mich endlich mit der Leitstelle reden und das Missverständnis aufklären.“ „Das ist eine MP5, Munition, eine Polizeiweste und eine andere Weste“, zählte Wagner überflüssigerweise auf. „Stimmt und wenn Sie die Westen zur Seite schieben, können Sie auch noch ein G-36 Sturmgewehr bewundern, lediglich das verdammte PSG 1 fehlt. Darf ich jetzt endlich telefonieren? Und vielleicht verstehen Sie jetzt, warum die Daten im Polizeicomputer gesperrt sind.“ Endlich drang er durch. Mit einer unsicher wirkenden Geste strich sich Wagner die Haare zurück. „Gut, Bernd, er soll seine Chance bekommen. Halt ihn im Schach, während er mit der Leitstelle telefoniert.“ „Na endlich.“ Unbeeindruckt von der auf ihn gerichteten Waffe ging Dirk zum Streifenwagen und griff zum Funkgerät. Nachdem er vor seinen aufmerksamen Zuhörern seinen Namen genannt hatte, sich zusätzlich durch eine Ziffernfolge identifiziert und zwei Kontrollfragen richtig beantwortet hatte, wurde er endlich mit dem Hamburger Polizeipräsidenten verbunden. Ein scharfes Luftholen hinter ihm verschaffte Dirk eine gewisse Befriedigung. Bereits nach dem zweiten Klingeln meldete sich die tiefe Stimme seines Vorgesetzen. „Richter hier. Entschuldigen Sie bitte, die Störung. Herr Tannhäuser.“ Es war eindeutig der Abend der Entschuldigungen und das bereits bevor er seiner Frau unter die Augen getreten war. „Einige Kollegen haben mich im Rahmen einer Verkehrskontrolle angehalten. Leider bin ich ohne Papiere, dafür mit interessantem Kofferrauminhalt unterwegs. Ehe ich die Nacht in U-Haft verbringe, wäre es nett, wenn Sie meine Identität bestätigen würden.“ „Was transportieren Sie denn in Ihrem Kofferraum?“ Anscheinend wollte sein Chef es ihm nicht einfach machen. „Ich bin im A6 eines amerikanischen Kollegen unterwegs.“ Mehr würde er über die unsichere Leitung nicht Preis geben, schließlich entsprach der Sicherheitsstandard des deutschen Polizeifunks dem des albanischen Netzes. Das leise Lachen, das er sonst durchaus sympathisch fand, verriet, dass Tannhäuser bereits ungefähr ahnte, in welcher Klemme Dirk steckte. „Auf die Erklärung bin ich gespannt, Herr Richter. Meine Frau vermutlich auch, denn der erste Akt der Oper beginnt gerade ohne mich.“ „Fragen Sie Sven, es sieht nicht so aus, als ob ich Montag lebend im Büro auftauchen würde.“ Mist, den Kommentar hätte er sich besser verkniffen. Kurzes Schweigen, dann die ernste Nachfrage. „Probleme?“ „Nein, nichts Ernstes, aber Sie kennen ja Alex. Ich habe einen Termin beim Kindergarten vergessen und bin deshalb ein wenig schnell unterwegs gewesen.“ Er blickte auf die Uhr und seufzte. „Jetzt ist es eh zu spät. In zwei Minuten schaffe ich das nie.“ Er bedankte sich und beendet das Gespräch. Wenigstens war die Waffe nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern die beiden Beamten sahen ihn abwartend an. Erstmals konnte er das Namensschild des zweiten Polizisten erkennen, Berg, etwas älter als sein Kollege und mit auffällig roten Haaren, die an Pat erinnerten. Er schien äußerst nachdenklich zu sein. Das Schweigen breitete sich aus und Dirk wusste nicht, was er noch sagen sollte. Außer einer Reihe Flüche auf Englisch und Deutsch fiel ihm nichts ein. Schließlich atmete er tief durch und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Seine Lederjacke lag natürlich auch in seinem eigenen Wagen. „Also gut, nachdem jetzt hoffentlich sicher ist, dass ich kein verkappter Terrorist bin, notieren Sie sich bitte meine Personalien und dann sehe ich zu, dass ich meine Familie finde.“ Berg legte den Kopf zur Seite und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dirk befürchtete Böses und hob abwehrend eine Hand. „Sekunde, Kollegen, jetzt kommt mir nicht und kassiert den Lappen ein, so schnell bin ich nicht gefahren und den Alkoholtest können wir gerne noch machen.“ Berg ignorierte Dirks Erklärung, sondern wandte sich an Wagner. „Denkst du dasselbe wie ich?“ „Ja.“ Wagner schloss mit einem entschiedenen Knall den Kofferraum des Audis. „Hau schon ab. Mal sehen, ob wir nicht was für dich tun können.“ Verblüfft versuchte Dirk den Sinneswandel zu verstehen. „Was soll das denn jetzt?“ „Deine gefahrene Geschwindigkeit wäre eh nur eine grobe Schätzung unsererseits und es gefällt mir, dass du hier nicht den LKA-Typen oder Spezialeinheiten-Heini rauskehrst. Schönen Abend noch.“ Wagner lächelte boshaft. „Und viel Spaß mit deiner Frau.“ Berg telefonierte auf seinem Handy und winkte Dirk lediglich zu. „Danke. Mal sehen, wie ich mich revanchieren kann.“ Neben einer Flasche Whisky für Tannhäuser war mindestens eine Packung Donuts für die Kollegen fällig. Aber darüber konnte er später nachdenken, erstmals musste er wohl oder übel versuchen, den Abend irgendwie zu retten. Verständnislos bremste er den Audi ab. Eine Menschenmenge hielt sich auf dem Parkplatz am Ende der Sackgasse auf. Zwei Streifenwagen und ein nervös tänzelndes Pferd zeigten, dass aus irgendwelchen Gründen der Umzug noch nicht begonnen hatte. Das Parkverbotschild ignorierte Dirk und sprang aus dem Wagen. Zwei Polizisten hockten vor einem alten Mazda und kratzten gerade die Plakette ab, direkt daneben Sven, der nicht besonders erfreut auf die Beiden einredete. Dirk kam nicht dazu, seinen Freund zu begrüßen. Mit einem Freudenschrei stürzte sich sein Sohn in seine Arme und er konnte gerade noch die wild schwankende Laterne davor bewahren, in Flammen aufzugehen. Den wütend funkelten Blick seiner Frau übersah er besser und drückte den begeisterten Jungen an sich. Alleine dafür hatte sich der Stress mit den Kollegen gelohnt. Einer der uniformierten Polizisten stand auf und grinste ihn an. „US Navy? Nettes Outfit fürs LKA. Da die Beschreibung stimmt, können wir wohl darauf verzichten, unter weiteren Vorwänden die Fahrzeuge hier zu kontrollieren.“ Wesentlich leiser als vorher, fuhr er fort. „Ein Glück, dass du endlich da bist, noch zwei Minuten länger und entweder der Blonde oder die Frau da drüben wäre auf mich losgegangen.“ Dirk lachte. „Der Blonde ist mein Partner und das andere meine Frau.“ Lächelnd gingen die Polizisten zu ihrem Streifenwagen und gaben das Startsignal. Sven sah ihn ratlos an. „Dafür ist eine verdammt gute Erklärung fällig: Wie hast du es geschafft, den ganzen Zug um 10 Minuten aufzuhalten?“ Sein Freund warf ihm seinen Autoschlüssel zu. „Meine Lederjacke liegt im Wagen. Hol sie dir, ehe du erfrierst oder noch mehr Reklame fürs amerikanische Militär machst.“ Erst jetzt bemerkte Dirk die neue Jacke seines Freundes, aber Svens Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er darüber nicht sprechen wollte. Da Dirk kaum den Abend mit Tim auf dem Arm als Schutz gegen die Nachtkälte verbringen konnte, lief er zum BMW seines Freundes und holte sich Svens alte Jacke. Kaum hielt er die reichlich abgestoßene Jacke in der Hand, verlangte sein Sohn auch schon energisch danach losgelassen zu werden. „Netten Einkaufsbummel gehabt?“, erkundigte sich Dirk leise, als er Sven den Schlüssel zurückgab. „Halt die Klappe. Lieber vier Stunden Holz hacken, als mit der eigenen Frau einzukaufen.“ „Sicher?“ Sie wechselten ein grimmiges Lächeln, verkniffen sich aber weitere Kommentare, da sich ihre Frauen näherten. Rasch zog Dirk Alex an sich. „Na, wieder beruhigt? Komm schon, Schatz, wir haben bis zum Umfallen geschuftet.“ Zunächst erwiderte Alex die Umarmung, dann machte sie sich energisch los. „Vermutlich hat Sven dich von der Couch hochgejagt, oder?“ Damit war Alex der Wahrheit entschieden zu nahe gekommen. „Wollt ihr nicht mitsingen? Ich denke, ihr kennt die Texte?“ Themenwechsel geglückt, aber bei den Blicken von Alex und Britta dachte er unwillkürlich an schusssichere Westen. Zum Glück setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Zum ersten Mal sah er den Reiter, der als St. Martin den Zug anführen sollte. Irritiert blinzelte er, aber der Anblick veränderte sich nicht. Sven folgte seinem Blick und lachte leise. „Das glaube ich nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, da steckt Pat oder einer der Jungs hinter. St. Martin als Teenager, meinetwegen, aber mit einem Reiterhelm, den die amerikanische Flagge schmückt? Ich weiß nicht …“ Leise fing Sven an, die amerikanische Nationalhymne zu pfeifen, und Dirk erstickte beinahe an seinem unterdrückten Lachen. Da die Kinder gerade begeistert ein Laternenlied anstimmten, würde er vermutlich gelyncht werden, wenn er laut loslachte. Dann verging ihm jeder Heiterkeitsausbruch und seine Hand schoss vor. Sekundenbruchteile, ehe Sven dazwischen gehen konnte. Eine Frau um die Vierzig hatte nichts Besseres zu tun, als während des Laternenumzugs zu rauchen. Das alleine wäre zwar ärgerlich, aber kein Problem. Die glühende Zigarette nur Millimeter von Tims Gesicht entfernt, war hingegen ein ernsthaftes Problem, das er mit einem leichten Schlag gegen ihren Arm beendete. Die Frau sah ihn wütend an. „Das ist ein Kinderumzug und das war mein Sohn, dem Sie gerade fast die Asche ins Gesicht gedrückt hätten.“ Der Blick der Frau flog Hilfe suchend zu einer der Begleitpersonen, die mit Warnwesten bekleidet, den Zug absicherten. Schlechte Wahl, der Polizist hatte den Vorfall verfolgt. „Probleme, Kollege?“, wandte er sich demonstrativ an Dirk. „Nein, ich denke, wir haben unseren Standpunkt klar gemacht.“ Sollte seine Erklärung nicht ausreichen, so war Svens Miene geeignet, jedem Angst einzuflößen, der nicht mindestens die Ausmaße von Fox, dem zwei Meter großen und hundert Kilo schweren Senior Chief in Marks Team hatte. Die Frau mochte vielleicht gewichtmäßig mit Fox mithalten, war aber mindestens zwei Köpfe kleiner. Die Frau stotterte eine grammatikalisch falsche Entschuldigung und verschwand an der linken Flanke des Zuges. Wenigstens hatte Dirk das Wohlwollen seiner Frau zurückerobert. „Den Arm hättest du ihr ruhig brechen können.“ „Beim nächsten Mal, versprochen.“ Ohne weitere Zwischenfälle legten sie den nächsten Kilometer zurück. Die Kinder genossen den Spaziergang mit den Laternen in der Menge und trotz der Dunkelheit erkannte man ihre strahlenden Augen. Dirk begann den Umzug beinahe zu genießen, als Sven nach vorne sprang und seinen Sohn in letzter Sekunde an der Kapuze zu fassen bekam. Eine Frau mit Kinderwagen schob sich ohne Rücksicht auf Erwachsene oder Kinder diagonal durch das Teilnehmerfeld und Dirk überlegte ernsthaft, die Frau von hinten umzugrätschen. Entweder war sie besoffen oder hemmungslos gedankenlos, was in seinen Augen identisch mit egoistisch wäre. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie nach einer Viertelstunde wieder das Kindergartengelände. Soweit er sich an das Programm erinnerte, sollten jetzt Punsch und Würstchen auf dem Programm stehen. Beides konnte er gut gebrauchen. Wenigstens hatte Alex offensichtlich gerührt vom Anblick der begeisterten Kinder bereits nach seiner Hand getastet und ihre Mordgedanken hoffentlich endgültig begraben. Auf dem Spielplatz des Kindergartens war bereits das St. Martinsfeuer in Gange. Vermutete Dirk es jedenfalls, Einzelheiten konnte er nicht erkennen. Etliche Erwachsene versperrten die Sicht und damit den Kindern die Gelegenheit, ans Feuer zu gelangen. Vor allem die Beiden direkt vor ihm, mit den körperlichen Ausmaßen von Urmenschen, die ohne Kinder dort standen, fielen ihm negativ auf. „Einige Erwachsene haben anscheinend noch nie ein Feuer gesehen“, beschwerte sich Sven lautstark, doch sein Sarkasmus war vergeblich, wurde gezielt überhört oder ignoriert. Sowohl Sven als auch Alex sahen aus, als ob ein Temperamentsausbruch kurz bevor stand. Das hatte ihm noch gefehlt. Energisch schob er seinen Freund zur Seite und tippte der Frau auf die Schulter. Mit Mühe bekam er einen annähernd freundlichen Ton hin: „Unsere Kinder würden gerne das Feuer sehen.“ Na also, es ging doch, die Neandertaler traten zur Seite und die Kinder stürmten ans Feuer. Aufatmend verfolgte Dirk die reichlich missglückte Gesangsrunde und wartete auf das Startsignal für Würstchen und Punsch. Seine Frau schien seinen Gedanken erraten zu haben. „Kein Würstchen! Dann wollen die Kinder auch eins und essen nichts mehr zu Abend.“ Ehe Dirk protestieren konnte, zog ihn Sven zur Seite. „Komm wir holen Punsch.“ Die Garage, die zum Würstchen-Punsch-Stand umfunktioniert war, wurde bereits belagert. Eine geordnete Warteschlange gab es nicht. Aber dank der SEALs kannten sie sich mit strategischen Winkelzügen aus. Was für den militärischen Bereich galt, zeigte auch hier seine Wirkung und innerhalb von wenigen Sekunden hatten sie sich über die rechte Flanke an den Ausgabetresen vorgearbeitet. Misstrauisch versuchte Dirk, den Punsch anhand des Geruchs zu identifizieren. Vergeblich. Jeweils mit zwei Bechern in der Hand kehrten sie zu ihren Familien zurück. Erwartungsgemäß begann sein Sohn sofort mit einer Diskussion, warum es kein Würstchen gab. Seine Frau ignorierte seinen vorwurfsvollen Blick und lenkte Tim pädagogisch wertvoll mit einer Flasche Apfelschorle ab. Wenigstens blieb ihm noch der Punsch. Erwartungsvoll nippte er an dem heißen Getränk und fluchte, als er sich die Zunge verbrannte. Außer nach heißem Wasser schmeckte das Zeug nach überhaupt nichts und von Alkohol weit und breit keine Spur. Ein geglückter Abschluss des Abends, zumal es immer kälter wurde und jetzt jede Hoffnung auf Wärme von Innen verschwand. „Komm lass uns verschwinden“, beschloss Sven und schüttete das mühsam erkämpfte , aber geschmacklose Heißgetränk in den nächsten Busch. Langsam nickte Dirk. Wenn die strahlenden Kinderaugen nicht gewesen wären, hätte er den Abend komplett abgeschrieben, aber so blieb wenigstens ein positiver Aspekt. „Worüber denkst du nach?“ „Darüber, was mich der Abend gekostet hat. St. Martin hat nur seinen Mantel geteilt, ich mein Geld. Das war ein ganz schön teurer Abend.“ „Was meinst du? Den Punsch habe ich bezahlt.“ „Für Tannhäuser ist eine Flasche Whisky fällig und für die Kollegen von der Polizei eine Ladung Donuts. Den Sonntag kann ich auch abschreiben, ich glaube nicht, dass ich morgen von der Couch hochkomme. Und Alex hat garantiert eine kostspielige Idee, wie ich meine Vergesslichkeit wiedergutmachen kann.“ Lachend legte Sven ihm einen Arm um die Schulter. „Du kannst einem echt Leid tun. Komm, wir verschwinden. Erzähl mir auf dem Weg zum Wagen lieber, wie du es geschafft hast, den St. Martinsumzug aufzuhalten.“ „Das war eine Art Wiedergutmachung, weil die Kollegen mich erst für einen Neonazi, dann für einen Schwulen und schließlich für einen Terroristen gehalten haben.“ „Schwul?“ „Ja, als ich meinen Partner erwähnt habe. Ich habe ja nix gegen homosexuelle Beziehungen, aber wir …“ Sven zog seinen Arm so rasch zurück, dass Dirk laut loslachte. Der weitere Verlauf des Abends versprach eine deutliche Besserung. © Stefanie Ross, 2013