Turnzwerge

Als kleine Erinnerung an ein paar unvergessliche Kursteilnehmer … Das Bewusstsein, das er sich im Unrecht befand, hob seine Stimmung nicht gerade. Frustriert fuhr sich Dirk mit der Hand durch die Haare, den Blick misstrauisch auf seinen Sohn gerichtet, der ihn erwartungsvoll aus strahlenden Kinderaugen anlachte. Tim ahnte zum Glück nicht, dass sein Vater sich ausnahmsweise wünschte, er wäre ganz weit weg. Wobei es Dirk im Moment ausgesprochen egal war, ob er sich selbst einige hundert Kilometer von Zuhause entfernt aufhielt oder seine Frau mit ihrem Sohn. „Jetzt hör doch mal zu, Alex. Das ist doch völlig …“ Zunächst hatte es ausgesehen, als ob seine Frau völlig unbeeindruckt weiter ihre Jacke zuknöpfen wollte, jetzt riss sie den Kopf hoch und blitzte ihn aus ihren tiefblauen Augen so wütend an, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. „Wir reden hier über vier oder fünf Stunden. Ich weiß wirklich nicht, wo das Problem ist.“ „Im Prinzip gibt es keins, aber ich wusste doch nicht …“ Ihr ausgestreckter Zeigefinger landete hart auf seiner Brust. „Was kann ich dafür, wenn du mir nie zuhörst und dich anscheinend auch sonst nicht im Geringsten dafür interessiert, was wir den ganzen Tag machen.“ „Das ist doch nicht wahr. Ich habe nur vergessen ...“ „Man kann nichts vergessen, was man nie gewusst hat.“ Dirk verhinderte mühsam, dass er genervt mit den Augen rollte. Sie konnte wohl kaum von ihm verlangen, dass er ihre sämtlichen Termine im Kopf hatte. „Ich bin ja bereit, auf Tim aufzupassen, aber nicht …“ „Ich denke, du schuldest mir einiges mehr, als diese paar Stunden.“ „Wie meinst du denn das jetzt?“ „Wann haben wir denn das letzte Mal etwas zu zweit gemacht? Oder wie viel Zeit hast du denn in den letzten Wochen mit uns verbracht?“ „Ich kann doch nichts dafür, dass wir …“ Wieder bohrte sich ihr Zeigefinger schmerzhaft in seine Brust. „Hey, langsam, es reicht …“ „Dann halt lieber den Mund. Ich werfe dir nicht vor, dass du zusammen mit Sven diesen Bauunternehmer ins Gefängnis gebracht hast, aber ansonsten solltest du dir vielleicht an deinen Freunden ein Beispiel nehmen.“ Ehrlich verwirrt und komplett ratlos hob Dirk die Hände leicht an. „Ich gebe es auf. Erklär mir, was du meinst.“ „Wieso musstest du unbedingt die letzten beiden Wochenenden mit Mark und seinem Team in Dänemark verbringen?“ „Du weißt doch, dass das eine einmalige Chance war, außerdem war Sven dabei.“ „Als ob ihr beim LKA unbedingt wissen müsst, wie man sich mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug schmeißt. So ein Blödsinn, ihr habt euch da oben doch nur eine schöne Zeit gemacht, während Stephan sich um seine Frau gekümmert hat.“ Damit lag Alex, zumindest was die Abendstunden anging, gar nicht falsch, was er jedoch lieber nicht zugeben würde. Er hing an seinem Leben. „Aber nur, weil er den Springerschein schon hat. Außerdem kannst du das doch gar nicht vergleichen, sie sind eben noch frisch …“ Schnell unterbrach er sich, als der Blick seiner Frau sich von drohend zu tödlich wandelte. „Also gut, Stephan hat sich in letzter Zeit mehr um Shara gekümmert, aber Sven …“ Der Ausdruck in Alex Augen sagte ihm deutlich, dass der Versuch, sich hinter Sven zu verstecken, komplett fehlgeschlagen war. „Sven ist die letzten beiden Wochen nicht dreimal abends noch nach Rostock zum Nahkampftraining gefahren, sondern hat die Zeit mit Britta und Jan verbracht.“ „Das war doch nur eine Ausnahme, weil zufällig dieser japanische Trainer du kannst dich doch nicht wirklich beschweren, davor waren wir zusammen am Strand und in der Schwimmhalle …“ „Das nennst du zusammen? Wir sitzen mit den Kindern am Strand, während ihr mit Jet-Skiern übers Wasser jagt, die zufällig neuerdings bei der KSK und den SEALs zur Ausrüstung gehören? Beim Grillen danach habt ihr doch nur über diese stinkenden, lärmenden Dinger geredet. Und in der Schwimmhalle durften Laura und ich mit den Kindern im Planschbecken toben, während du mit Mark im großen Becken deine Bahnen gezogen hast. Wirklich sehr familiär. Aber wenigstens nimmt sich Mark im Gegensatz zu dir in der Woche ausreichend Zeit für seine Familie.“ Wahrscheinlich war es der falsche Zeitpunkt, Alex daran zu erinnern, dass sie die kleinen Wasserflitzer selbst gerne ausprobiert hätte und nur deshalb so sauer war, weil Andi und Mark dies strikt abgelehnt hatten. „Also gut, ich verstehe, was du meinst, ich werde …“ „Vergiss es. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber gut, ich bin einverstanden!“ Alex Ton passte nicht zu ihren Worten. Mit misstrauisch gerunzelter Stirn versuchte Dirk, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. „Einfach so?“ „Ja sicher doch. Wenn du damit leben kannst, dass Sven dich für einen Feigling hält. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auch so einen Aufstand gemacht hat. Aber gut, das ist deine Sache.“ Gut, das war kein Problem, sein Freund würde ihn niemals für einen Feigling halten, dafür kannten sie sich zu gut. Plötzlich sah der Nachmittag gar nicht mehr so fürchterlich aus. Sie würden die Kinder im Wohnzimmer spielen lassen, ein paar Süßigkeiten hinstellen und konnten sich dann in sein Arbeitszimmer zurückziehen. Sein neues Computerspiel war beeindruckend und würde Sven garantiert gefallen. Anscheinend war er zu abgelenkt, ihn hätte Alex’ Gesichtsausdruck warnen müssen. Mit einem liebevollen Lächeln beugte sie sich zu Tim hinab und küsste ihn. „Tschüß, mein Schatz. Ich bin bald wieder da und sei nicht böse, dass Papa mit dir nicht zum Kinderturnen will.“ Ehe er etwas sagen konnte, verschwand das Lachen aus Tims Gesicht. Die Mundwinkel des kleinen Jungen zuckten bedenklich, riesige Kullertränchen rollten die Wangen hinab und ein ohrenbetäubendes Geschrei brachte sein Trommelfell zum Vibrieren. Dirk warf Alex einen Blick zu, vor dem ein Terrorist weggelaufen wäre, aber seine Frau winkte ihm lediglich zu und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. „Komm schon, Tim. Beruhig dich. Natürlich fahren wir gleich mit Jan zum Kinderturnen. Deine Mutter hat da etwas falsch verstanden.“ Zuerst verstummte das Geschrei, dann das Schniefen. „Wirklich?“ „Natürlich, mein Kleiner.“ Aber erst würde er Natascha anrufen, die Staatsanwältin wusste bestimmt, welche Strafe darauf stand, seine Frau umzubringen. Alex holte den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche und atmete erleichtert auf, als Tims Gebrüll verstummte. Wieso musste Dirk nur so tun, als ob sie sonst was von ihm verlangte? Gut, zugegeben, sie und Britta hatten ihren kinderfreien Nachmittag bewusst so gewählt, dass ihre Männer zum Kinderturnen gehen mussten. Während die Kinder dort ihren Spaß hatten, waren Britta und sie immer heilfroh, wenn die sechzig Minuten endlich vorbei waren. Sie hatte keine Ahnung, wer von ihnen zuerst auf die Idee gekommen war, aber der Gedanke war einfach zu verführerisch gewesen, ihren Männern den ungeliebten Nachmittagstermin aufs Auge zu drücken. Automatisch wollte sie zu ihrem Kombi gehen und zögerte dann, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Falsch, den konnte Dirk nehmen. Schließlich hatte er sich geweigert, den Kindersitz umzubauen. Sie hatte gerade die Fahrertür geöffnet, als ein BMW mit quietschenden Reifen neben ihr anhielt. Sven warf ihr einen Blick zu, der nicht im Geringsten freundlich war, sondern viel mehr darauf hindeutete, dass er gerade erst einen seiner berühmten Wutanfälle in den Griff bekommen hatte. „Wirklich, großartiges Timing von euch“, knurrt er sie statt einer Begrüßung an, während Jan aus dem Wagen kletterte. Svens Augen verengten sich zu drohenden Schlitzen. „Viel Spaß mit Dirks Wagen und wenn du auch nur daran denken solltest, sein Baulicht zu benutzen, verpasse ich dir einen Strafzettel, der es in sich hat.“ „Danke für die nette Begrüßung, Sven. Wenn du fertig bist, mich anzubrüllen, solltest du vielleicht Jans Trinkflasche zudrehen.“ Sven fuhr herum und stieß einen wütenden Fluch aus, als er entdeckte, dass Jan interessiert beobachtete, wie der Apfelsaft in den Fußraum des BMWs tropfte. Für den Moment war das Experiment vergessen, unschuldig blickte Jan zu seinem Vater auf. „Was hast du gesagt? Bist du böse?“ Alex wartete die Antwort nicht mehr ab, da sie eine ungefähre Vorstellung hatte, wie ihr Grinsen auf Sven wirken würde. Dirk rammte den Rückwärtsgang rein und trat im nächsten Moment hart auf die Bremse. Das durfte doch nicht wahr sein. Er hatte seine Absicht, in die freie Parklücke neben Sven einzuparken nun mehr als deutlich gemacht. Anscheinend interessierte das den Fahrer des alten Passats nicht im Geringsten. Seine Stimmung verschlechterte sich weiter, als er Alex’ Kombi mühsam in die nächste freie, weitaus engere Parklücke rangierte. Dirk atmete erleichtert auf, als Tim endlich aus dem Kindersitz geklettert war und erstmal zu Jan stürmte. „Ich könnte Alex umbringen.“ „Wenn du schon dabei bist, mach bei Britta weiter und diesen Idioten kannst du auch noch auf die Liste setzen.“ Sven deutete mit der Hand auf den Passat. Der Mann stand in einiger Entfernung mit einem weiteren Mann, zwei Kleinkindern und zwei Frauen und rauchte. Das die Kinder dabei einen Großteil des schädlichen Qualms abbekamen, schien ihn nicht weiter zu stören. Dirk warf der Gruppe einen schnellen Blick zu und verzog das Gesicht. „Wenigstens brauchen wir nicht zu befürchten, dass diese Typen gleich bei diesem Scheißturnen auftauchen.“ Sven fragte nicht nach, sondern verstand ihn auch ohne weitere Erklärung, die Figuren der Frauen waren … unbeschreiblich. „Was hast du gesagt, Papa?“, fragend sah Tim ihn an. „Das heißt nicht Scheißturnen, das heißt: Kinderturnen“, verbesserte der Junge dann seinen Vater. Während Sven plötzlich mit einem Hustenanfall kämpfen musste, sah Dirk sich den Wagen genauer an. Sven trat neben ihn. „Was ist los? Der Aufkleber?“ Grinsend schüttelte Dirk den Kopf, obwohl sowohl er als auch Sven beide begeisterte Motorradfahrer waren, wären sie nie auf die Idee gekommen, sich deshalb einen auffälligen Schriftzug ‚Biker’ aufs Auto zu kleben. „Nein. Der muss es ja ziemlich nötig haben, wenn er sein Hobby auf diese Weise kund tut. Vielleicht gibt es Diskomiezen, die darauf stehen. Der TÜV ist bereits seit sechs Monaten abgelaufen und ich bezweifele, dass die Karre noch mal eine Plakette bekommt. Wenn er mich noch mehr ärgert, dann …“ Diesmal gab sich Sven keine Mühe, sein Lachen zu verbergen, sondern amüsierte sich offen. „Na, komm, lass uns sehen, dass wir unbeschadet diese Veranstaltung überstehen und dann machen wir es uns bei dir zuhause gemütlich.“ Misstrauisch betrachtete Dirk wenig später die auf dem Boden verstreuten Kissen. Während er noch nach einer halbwegs bequemen Sitzposition suchte und sich fragte, wieso man eine Turnstunde sitzend begann, hatte Sven plötzlich Mühe, seine Fassung zu bewahren. Schnell warf Dirk einen unauffälligen Blick in die Richtung, in die Sven starrte und hatte plötzlich selbst Probleme. Dirk schluckte hart. Er hielt sich normalerweise für tolerant, hatte keinerlei Vorurteile, aber dass jemand, der etliche Kilos Übergewicht hatte, ein hautenges, bauchfreies Outfit trug, verstand er nicht. Sven beugte sich zu ihm rüber. „Du bist der Wirtschaftsprüfer. Wie viele Fettringe zählst du?“, flüsterte sein Freund ihm kaum hörbar auf Englisch ins Ohr. Dirk erstickte fast bei dem Versuch, sein Lachen zu unterdrücken. Mit einem bösartigen Grinsen machte Sven weiter. „Stell dir mal vor, Pat wäre hier und würde den Anblick kommentieren. Die wiegt locker 150 Kilo.“ „Mindestens.” In diesem Moment setzte die Frau sich und entblößte dabei nicht nur einen Großteil ihres nicht besonders anziehend wirkenden Hinterteils, sondern zeigte auch ihre Vorliebe für Stringtangas. „Das glaube ich nicht“, murmelte Dirk vor sich hin. „Und ich korrigiere mich: Ich glaube, wir müssen dankbar sein, dass Pat nicht hier ist.“ Dirk zwang sich, den Anblick der Frau zu ignorieren und konzentrierte sich schnell auf das vor ihr sitzende Kind. Keine gute Idee. Ein Junge in Tims Alter, der Ohrringe trug? Und ein Schmuckarmband? Obwohl er überflüssige Vorschriften hasste, hatte das gesetzliche Verbot des Ausdehnens von schlechtem elterlichem Geschmack auf Kinder plötzlich einen ganz eigenen Charme. Er schluckte erneut und betete, dass Sven weitere Kommentare für sich behielt. Endlich saßen alle Eltern mit ihren Kindern auf dem Boden und blickten mehr oder weniger gespannt auf die Leiterin des Kurses. Svens schneller Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass sein Freund bereits die Minuten bis zum Ende der Veranstaltung zählte. Sofort nachdem die Kursleiterin sich mit ihrem Vornamen vorgestellt hatte, ergriff ein Mann das Wort, den Dirk sofort als den Fahrer des Passats identifizierte, der ihm den Parkplatz weggeschnappt hatte und anscheinend zu der dicken Frau und dem Jungen mit Ohrring gehörte. Der Mann deutete auf einen weiteren Mann mit Camcorder. „Der Patenonkel meines Sohnes ist heute anwesend und macht ein paar Aufnahmen.“ Eindeutig eine Feststellung und keine Bitte oder Frage. Ehe Dirk antworten konnte, übernahm Sven dies für ihn. „Machen Sie die Aufnahmen, wo sie wollen, hier nicht.“ Anscheinend hatte der Mann mit der deutschen Sprache ein Problem. Kein Wunder, mit den geschmacklosen Klamotten und dem protzigen Handy, das er offen am Gürtel trug, wirkte er wie jemand, der bereits mit den Schlagzeilen der BILD-Zeitung überfordert wäre. „Ich gehe also davon aus, dass niemand etwas dagegen hat“, fasste Handy- und Biker-Fan freundlich, aber auch dümmlich lächelnd zusammen. „Mein Freund hat Ihnen gerade versucht, zu erklären, dass es weder Filmaufnahmen von uns noch unseren Kindern geben wird“, unternahm Dirk einen weiteren Versuch. Selbst wenn er und Sven nicht fürs LKA arbeiten würden, hätte er keine Lust, dass sie selbst oder eines ihrer Kinder bei einem der nächsten Familienfeste unabsichtlich Star einer Filmaufführung wäre. Beleidigt packte der Mann seinen Camcorder weg. Das folgende Begrüßungslied brachten Sven und Dirk mit Anstand hinter sich, schließlich konnte niemand erwarten, dass sie den Text kannten, wenigstens sangen ihre Söhne begeistert mit und schlugen mit den anderen Kindern abwechselnd lautstark auf eine Trommel ein. Kaum war das Lied zu Ende, blickte der Junge mit dem Ohrring sich ratlos um und wusste offensichtlich nicht, was er mit der Trommel machen sollte. Die Mutter, deren Anblick Dirk weiterhin strikt mied, gab ihm einen Schubs zu der jungen Kursleiterin. „Na los, bring die Trommel zurück zur Turnlehrerin.“ Vor Dirks Auge erschien das Bild eines mittelalterlichen Fräuleins mit dickem Haarknoten am Hinterkopf. Er biss sich hart auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Sven hatte weniger Erfolg, ein gedämpftes Husten erklang neben Dirk und hätte ihn fast seine Beherrschung gekostet. Wenigstens würde es jetzt endlich mit dem eigentlichen Bewegungsprogramm losgehen. Wieder irrte Dirk sich. Eine Frau, die ihm bisher nicht aufgefallen war, ergriff das Wort. Irritiert runzelte er die Stirn. Wieso kam man zum Kinderturnen mit Blazer und hochhackigen Pantoffeln? Umständlich und ausschweifend begann die Frau von ihren Urlaubserlebnissen zu erzählen, während die Kinder bereits unruhig wurden. Fragend sah Tim seinen Vater an. „Sicher, schnapp dir Jan und lauf los. Das hier kann noch dauern.“ Dann beugte sich Dirk zu Sven rüber. „Meinst du es besteht danach noch Interesse an einem Vortrag über die Neuerungen bei den IFRS?“ „IF … was? Ist das Marks neues Gewehr?“ „Du bist wirklich ein Penner. Und so was arbeitet im Wirtschaftsdezernat. Die amerikanische Rechnungslegung, du Idiot.“ „Ach ja, die wurde ja umbenannt. Für solchen Schrott habe ich meine Leute.“ Dirk kniff die Augen drohend zusammen, was sein Freund jedoch grinsend ignorierte, stattdessen offen gähnte und sich reckte. Endlich war auch dieser Teil überstanden und es sollte ein großer Kreis gebildet werden. Soweit so gut, aber irgendwie ergab es sich, dass der Handy-offen-am- Gürtelträger direkt neben Dirk stand und ihm die Hand entgegenstreckte. Die tödliche Kälte in Dirks Gesicht schien ihn nicht abzuschrecken, aber anscheinend erkannte Sven den Nur-über-meine-Leiche-Blick richtig und trat schnell dazwischen. Sven schubste anscheinend unbeabsichtigt den Typen zur Seite und streckte der Kursleiterin freundlich lächelnd die Hand entgegen. Aufatmend lehnte sich Dirk etliche Minuten später gegen die Wand. Die Anfangsphase war überstanden, verschiedene Geräte aufgebaut und die Kinder beschäftigt. Noch zwanzig Minuten. Was sollte jetzt noch passieren? Jan balancierte begeistert über eine umgedrehte Bank, dicht gefolgt von Tim. Plötzlich stürmte der Sohn des Passatfahrers auf die beiden Kinder zu. Das Kind drängelte sich ungestüm dazwischen, sodass Tim ins Straucheln geriet und zu Boden gestürzt wäre, wenn Dirk nicht vorwärts gehechtet wäre und seinen Sohn im letzten Moment zu packen bekommen hätte. „Pascal, du muss schon aufpassen, wenn die beiden Jungs so langsam sind.“ Der Ton brachte Dirk zum Kochen, gedanklich sah er sich ausholen, den Mann zu Boden schicken und noch mal ordentlich zutreten. Ein fester Griff an seinem Arm beendete seine Fantasien. „Komm schon, reg dich ab. Für Wutanfälle bin ich zuständig.“ Dirk knurrte nur, schüttelte Svens Hand ab und beugte sich zu seinem Sohn runter. „Alles klar, Tim? Ich bin sofort wieder da. Sven passt solange auf, dass dir keine minderbemittelten Idioten zu nahe kommen.“ Eilig verließ Dirk den Raum. „Will sich der Typ vielleicht mit mir anlegen? Das kann er haben.“ Herablassend musterte Sven den Mann von oben bis unten. „Sagt Ihnen der Ausdruck Muy-Thai etwas?“ „Sollte er?“ „Das ist einer von fünf Kampfsportstilen, in denen mein Freund einen schwarzen Gürtel besitzt.“ Während der Mund des Mannes aufklappte und offen blieb, wandte Sven sich wortlos ab, griff nach einem am Boden liegenden Ball und warf ihn Jan zu. „Los, Jungs, eine Runde Fußball.“ „Ein Glück, dass es vorbei ist“, stellte Sven deutlich erleichtert fest, während er Jan seine Straßenschuhe anzog. „Ja“, Dirk sah sich prüfend um, aber da sie wohlweißlich das Gedrängel nach Beendigung der Stunde gemieden hatten, waren sie jetzt alleine. „Lieber drei bewaffnete Tangos, als noch mal diesen Scheiß. Gut, die Kinder hatten ihren Spaß, aber diese Leute Nee, ich könnte mich nur noch schütteln.“ Dirk atmete tief durch und strich sich die Haare zurück. „Sag mal, bin ich jetzt so ein arrogantes Arschloch geworden oder war das wirklich unterste Proletenschublade?“ „Letzteres. Komm, lass uns hier abhauen.“ Sie gingen eilig Richtung Parkplatz, blieben dann abrupt stehen, sahen sich an und begannen gleichzeitig zu lachen. Neben Svens BMW stehend, beobachteten sie mit betont unschuldigem Gesichtsausdruck, was sich um den Passat und den beiden blau- silbernen Streifenwagen herum abspielte. Breit grinsend kamen zwei uniformierte Polizisten auf sie zu, die Svens BMW garantiert als ziviles Polizeifahrzeug erkannt hatten. Der Größere von Beiden schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich schätze, ihr seid die Kollegen aus Hamburg. Hört zu, Leute, es reicht zukünftig, wenn ihr euch abstimmt und einen Streifenwagen von uns losjagt, wenn euch einer ärgert. Falls es euch freut: Die Kiste wird stillgelegt, an der funktioniert überhaupt nichts mehr - außer dem Aschenbecher. Außerdem haben wir im Kofferraum vier Autoradios gefunden, die dieser Penner bestimmt nicht gekauft hat. Mein Kollege wartete immer noch auf eine vernünftige Erklärung, aber ich glaube nicht, dass da heute noch was kommt.“ Dirk lächelte grimmig. „Ich auch nicht, nicht bei einem IQ, der knapp über Zimmertemperatur liegen dürfte. Danke für eure Hilfe. Der wird sich zukünftig überlegen, mit wem er sich anlegt. Komm; Sven, schneller Zwischenstopp am Bahnhof und dann fahren wir zu mir.“ „Was willst du am Bahnhof?“ „Einen Strauß Blumen kaufen, wenn ich mir vorstelle, dass Alex diesen Scheiß jede Woche erträgt, hat sie sich den wirklich verdient.“
© Stefanie Ross Impressum Datenschutz

Turnzwerge

Als kleine Erinnerung an ein paar unvergessliche Kursteilnehmer … Das Bewusstsein, das er sich im Unrecht befand, hob seine Stimmung nicht gerade. Frustriert fuhr sich Dirk mit der Hand durch die Haare, den Blick misstrauisch auf seinen Sohn gerichtet, der ihn erwartungsvoll aus strahlenden Kinderaugen anlachte. Tim ahnte zum Glück nicht, dass sein Vater sich ausnahmsweise wünschte, er wäre ganz weit weg. Wobei es Dirk im Moment ausgesprochen egal war, ob er sich selbst einige hundert Kilometer von Zuhause entfernt aufhielt oder seine Frau mit ihrem Sohn. „Jetzt hör doch mal zu, Alex. Das ist doch völlig …“ Zunächst hatte es ausgesehen, als ob seine Frau völlig unbeeindruckt weiter ihre Jacke zuknöpfen wollte, jetzt riss sie den Kopf hoch und blitzte ihn aus ihren tiefblauen Augen so wütend an, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. „Wir reden hier über vier oder fünf Stunden. Ich weiß wirklich nicht, wo das Problem ist.“ „Im Prinzip gibt es keins, aber ich wusste doch nicht …“ Ihr ausgestreckter Zeigefinger landete hart auf seiner Brust. „Was kann ich dafür, wenn du mir nie zuhörst und dich anscheinend auch sonst nicht im Geringsten dafür interessiert, was wir den ganzen Tag machen.“ „Das ist doch nicht wahr. Ich habe nur vergessen ...“ „Man kann nichts vergessen, was man nie gewusst hat.“ Dirk verhinderte mühsam, dass er genervt mit den Augen rollte. Sie konnte wohl kaum von ihm verlangen, dass er ihre sämtlichen Termine im Kopf hatte. „Ich bin ja bereit, auf Tim aufzupassen, aber nicht …“ „Ich denke, du schuldest mir einiges mehr, als diese paar Stunden.“ „Wie meinst du denn das jetzt?“ „Wann haben wir denn das letzte Mal etwas zu zweit gemacht? Oder wie viel Zeit hast du denn in den letzten Wochen mit uns verbracht?“ „Ich kann doch nichts dafür, dass wir …“ Wieder bohrte sich ihr Zeigefinger schmerzhaft in seine Brust. „Hey, langsam, es reicht …“ „Dann halt lieber den Mund. Ich werfe dir nicht vor, dass du zusammen mit Sven diesen Bauunternehmer ins Gefängnis gebracht hast, aber ansonsten solltest du dir vielleicht an deinen Freunden ein Beispiel nehmen.“ Ehrlich verwirrt und komplett ratlos hob Dirk die Hände leicht an. „Ich gebe es auf. Erklär mir, was du meinst.“ „Wieso musstest du unbedingt die letzten beiden Wochenenden mit Mark und seinem Team in Dänemark verbringen?“ „Du weißt doch, dass das eine einmalige Chance war, außerdem war Sven dabei.“ „Als ob ihr beim LKA unbedingt wissen müsst, wie man sich mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug schmeißt. So ein Blödsinn, ihr habt euch da oben doch nur eine schöne Zeit gemacht, während Stephan sich um seine Frau gekümmert hat.“ Damit lag Alex, zumindest was die Abendstunden anging, gar nicht falsch, was er jedoch lieber nicht zugeben würde. Er hing an seinem Leben. „Aber nur, weil er den Springerschein schon hat. Außerdem kannst du das doch gar nicht vergleichen, sie sind eben noch frisch …“ Schnell unterbrach er sich, als der Blick seiner Frau sich von drohend zu tödlich wandelte. „Also gut, Stephan hat sich in letzter Zeit mehr um Shara gekümmert, aber Sven …“ Der Ausdruck in Alex Augen sagte ihm deutlich, dass der Versuch, sich hinter Sven zu verstecken, komplett fehlgeschlagen war. „Sven ist die letzten beiden Wochen nicht dreimal abends noch nach Rostock zum Nahkampftraining gefahren, sondern hat die Zeit mit Britta und Jan verbracht.“ „Das war doch nur eine Ausnahme, weil zufällig dieser japanische Trainer du kannst dich doch nicht wirklich beschweren, davor waren wir zusammen am Strand und in der Schwimmhalle …“ „Das nennst du zusammen? Wir sitzen mit den Kindern am Strand, während ihr mit Jet-Skiern übers Wasser jagt, die zufällig neuerdings bei der KSK und den SEALs zur Ausrüstung gehören? Beim Grillen danach habt ihr doch nur über diese stinkenden, lärmenden Dinger geredet. Und in der Schwimmhalle durften Laura und ich mit den Kindern im Planschbecken toben, während du mit Mark im großen Becken deine Bahnen gezogen hast. Wirklich sehr familiär. Aber wenigstens nimmt sich Mark im Gegensatz zu dir in der Woche ausreichend Zeit für seine Familie.“ Wahrscheinlich war es der falsche Zeitpunkt, Alex daran zu erinnern, dass sie die kleinen Wasserflitzer selbst gerne ausprobiert hätte und nur deshalb so sauer war, weil Andi und Mark dies strikt abgelehnt hatten. „Also gut, ich verstehe, was du meinst, ich werde …“ „Vergiss es. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber gut, ich bin einverstanden!“ Alex Ton passte nicht zu ihren Worten. Mit misstrauisch gerunzelter Stirn versuchte Dirk, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. „Einfach so?“ „Ja sicher doch. Wenn du damit leben kannst, dass Sven dich für einen Feigling hält. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auch so einen Aufstand gemacht hat. Aber gut, das ist deine Sache.“ Gut, das war kein Problem, sein Freund würde ihn niemals für einen Feigling halten, dafür kannten sie sich zu gut. Plötzlich sah der Nachmittag gar nicht mehr so fürchterlich aus. Sie würden die Kinder im Wohnzimmer spielen lassen, ein paar Süßigkeiten hinstellen und konnten sich dann in sein Arbeitszimmer zurückziehen. Sein neues Computerspiel war beeindruckend und würde Sven garantiert gefallen. Anscheinend war er zu abgelenkt, ihn hätte Alex’ Gesichtsausdruck warnen müssen. Mit einem liebevollen Lächeln beugte sie sich zu Tim hinab und küsste ihn. „Tschüß, mein Schatz. Ich bin bald wieder da und sei nicht böse, dass Papa mit dir nicht zum Kinderturnen will.“ Ehe er etwas sagen konnte, verschwand das Lachen aus Tims Gesicht. Die Mundwinkel des kleinen Jungen zuckten bedenklich, riesige Kullertränchen rollten die Wangen hinab und ein ohrenbetäubendes Geschrei brachte sein Trommelfell zum Vibrieren. Dirk warf Alex einen Blick zu, vor dem ein Terrorist weggelaufen wäre, aber seine Frau winkte ihm lediglich zu und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. „Komm schon, Tim. Beruhig dich. Natürlich fahren wir gleich mit Jan zum Kinderturnen. Deine Mutter hat da etwas falsch verstanden.“ Zuerst verstummte das Geschrei, dann das Schniefen. „Wirklich?“ „Natürlich, mein Kleiner.“ Aber erst würde er Natascha anrufen, die Staatsanwältin wusste bestimmt, welche Strafe darauf stand, seine Frau umzubringen. Alex holte den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche und atmete erleichtert auf, als Tims Gebrüll verstummte. Wieso musste Dirk nur so tun, als ob sie sonst was von ihm verlangte? Gut, zugegeben, sie und Britta hatten ihren kinderfreien Nachmittag bewusst so gewählt, dass ihre Männer zum Kinderturnen gehen mussten. Während die Kinder dort ihren Spaß hatten, waren Britta und sie immer heilfroh, wenn die sechzig Minuten endlich vorbei waren. Sie hatte keine Ahnung, wer von ihnen zuerst auf die Idee gekommen war, aber der Gedanke war einfach zu verführerisch gewesen, ihren Männern den ungeliebten Nachmittagstermin aufs Auge zu drücken. Automatisch wollte sie zu ihrem Kombi gehen und zögerte dann, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Falsch, den konnte Dirk nehmen. Schließlich hatte er sich geweigert, den Kindersitz umzubauen. Sie hatte gerade die Fahrertür geöffnet, als ein BMW mit quietschenden Reifen neben ihr anhielt. Sven warf ihr einen Blick zu, der nicht im Geringsten freundlich war, sondern viel mehr darauf hindeutete, dass er gerade erst einen seiner berühmten Wutanfälle in den Griff bekommen hatte. „Wirklich, großartiges Timing von euch“, knurrt er sie statt einer Begrüßung an, während Jan aus dem Wagen kletterte. Svens Augen verengten sich zu drohenden Schlitzen. „Viel Spaß mit Dirks Wagen und wenn du auch nur daran denken solltest, sein Baulicht zu benutzen, verpasse ich dir einen Strafzettel, der es in sich hat.“ „Danke für die nette Begrüßung, Sven. Wenn du fertig bist, mich anzubrüllen, solltest du vielleicht Jans Trinkflasche zudrehen.“ Sven fuhr herum und stieß einen wütenden Fluch aus, als er entdeckte, dass Jan interessiert beobachtete, wie der Apfelsaft in den Fußraum des BMWs tropfte. Für den Moment war das Experiment vergessen, unschuldig blickte Jan zu seinem Vater auf. „Was hast du gesagt? Bist du böse?“ Alex wartete die Antwort nicht mehr ab, da sie eine ungefähre Vorstellung hatte, wie ihr Grinsen auf Sven wirken würde. Dirk rammte den Rückwärtsgang rein und trat im nächsten Moment hart auf die Bremse. Das durfte doch nicht wahr sein. Er hatte seine Absicht, in die freie Parklücke neben Sven einzuparken nun mehr als deutlich gemacht. Anscheinend interessierte das den Fahrer des alten Passats nicht im Geringsten. Seine Stimmung verschlechterte sich weiter, als er Alex’ Kombi mühsam in die nächste freie, weitaus engere Parklücke rangierte. Dirk atmete erleichtert auf, als Tim endlich aus dem Kindersitz geklettert war und erstmal zu Jan stürmte. „Ich könnte Alex umbringen.“ „Wenn du schon dabei bist, mach bei Britta weiter und diesen Idioten kannst du auch noch auf die Liste setzen.“ Sven deutete mit der Hand auf den Passat. Der Mann stand in einiger Entfernung mit einem weiteren Mann, zwei Kleinkindern und zwei Frauen und rauchte. Das die Kinder dabei einen Großteil des schädlichen Qualms abbekamen, schien ihn nicht weiter zu stören. Dirk warf der Gruppe einen schnellen Blick zu und verzog das Gesicht. „Wenigstens brauchen wir nicht zu befürchten, dass diese Typen gleich bei diesem Scheißturnen auftauchen.“ Sven fragte nicht nach, sondern verstand ihn auch ohne weitere Erklärung, die Figuren der Frauen waren … unbeschreiblich. „Was hast du gesagt, Papa?“, fragend sah Tim ihn an. „Das heißt nicht Scheißturnen, das heißt: Kinderturnen“, verbesserte der Junge dann seinen Vater. Während Sven plötzlich mit einem Hustenanfall kämpfen musste, sah Dirk sich den Wagen genauer an. Sven trat neben ihn. „Was ist los? Der Aufkleber?“ Grinsend schüttelte Dirk den Kopf, obwohl sowohl er als auch Sven beide begeisterte Motorradfahrer waren, wären sie nie auf die Idee gekommen, sich deshalb einen auffälligen Schriftzug ‚Biker’ aufs Auto zu kleben. „Nein. Der muss es ja ziemlich nötig haben, wenn er sein Hobby auf diese Weise kund tut. Vielleicht gibt es Diskomiezen, die darauf stehen. Der TÜV ist bereits seit sechs Monaten abgelaufen und ich bezweifele, dass die Karre noch mal eine Plakette bekommt. Wenn er mich noch mehr ärgert, dann …“ Diesmal gab sich Sven keine Mühe, sein Lachen zu verbergen, sondern amüsierte sich offen. „Na, komm, lass uns sehen, dass wir unbeschadet diese Veranstaltung überstehen und dann machen wir es uns bei dir zuhause gemütlich.“ Misstrauisch betrachtete Dirk wenig später die auf dem Boden verstreuten Kissen. Während er noch nach einer halbwegs bequemen Sitzposition suchte und sich fragte, wieso man eine Turnstunde sitzend begann, hatte Sven plötzlich Mühe, seine Fassung zu bewahren. Schnell warf Dirk einen unauffälligen Blick in die Richtung, in die Sven starrte und hatte plötzlich selbst Probleme. Dirk schluckte hart. Er hielt sich normalerweise für tolerant, hatte keinerlei Vorurteile, aber dass jemand, der etliche Kilos Übergewicht hatte, ein hautenges, bauchfreies Outfit trug, verstand er nicht. Sven beugte sich zu ihm rüber. „Du bist der Wirtschaftsprüfer. Wie viele Fettringe zählst du?“, flüsterte sein Freund ihm kaum hörbar auf Englisch ins Ohr. Dirk erstickte fast bei dem Versuch, sein Lachen zu unterdrücken. Mit einem bösartigen Grinsen machte Sven weiter. „Stell dir mal vor, Pat wäre hier und würde den Anblick kommentieren. Die wiegt locker 150 Kilo.“ „Mindestens.” In diesem Moment setzte die Frau sich und entblößte dabei nicht nur einen Großteil ihres nicht besonders anziehend wirkenden Hinterteils, sondern zeigte auch ihre Vorliebe für Stringtangas. „Das glaube ich nicht“, murmelte Dirk vor sich hin. „Und ich korrigiere mich: Ich glaube, wir müssen dankbar sein, dass Pat nicht hier ist.“ Dirk zwang sich, den Anblick der Frau zu ignorieren und konzentrierte sich schnell auf das vor ihr sitzende Kind. Keine gute Idee. Ein Junge in Tims Alter, der Ohrringe trug? Und ein Schmuckarmband? Obwohl er überflüssige Vorschriften hasste, hatte das gesetzliche Verbot des Ausdehnens von schlechtem elterlichem Geschmack auf Kinder plötzlich einen ganz eigenen Charme. Er schluckte erneut und betete, dass Sven weitere Kommentare für sich behielt. Endlich saßen alle Eltern mit ihren Kindern auf dem Boden und blickten mehr oder weniger gespannt auf die Leiterin des Kurses. Svens schneller Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass sein Freund bereits die Minuten bis zum Ende der Veranstaltung zählte. Sofort nachdem die Kursleiterin sich mit ihrem Vornamen vorgestellt hatte, ergriff ein Mann das Wort, den Dirk sofort als den Fahrer des Passats identifizierte, der ihm den Parkplatz weggeschnappt hatte und anscheinend zu der dicken Frau und dem Jungen mit Ohrring gehörte. Der Mann deutete auf einen weiteren Mann mit Camcorder. „Der Patenonkel meines Sohnes ist heute anwesend und macht ein paar Aufnahmen.“ Eindeutig eine Feststellung und keine Bitte oder Frage. Ehe Dirk antworten konnte, übernahm Sven dies für ihn. „Machen Sie die Aufnahmen, wo sie wollen, hier nicht.“ Anscheinend hatte der Mann mit der deutschen Sprache ein Problem. Kein Wunder, mit den geschmacklosen Klamotten und dem protzigen Handy, das er offen am Gürtel trug, wirkte er wie jemand, der bereits mit den Schlagzeilen der BILD-Zeitung überfordert wäre. „Ich gehe also davon aus, dass niemand etwas dagegen hat“, fasste Handy- und Biker-Fan freundlich, aber auch dümmlich lächelnd zusammen. „Mein Freund hat Ihnen gerade versucht, zu erklären, dass es weder Filmaufnahmen von uns noch unseren Kindern geben wird“, unternahm Dirk einen weiteren Versuch. Selbst wenn er und Sven nicht fürs LKA arbeiten würden, hätte er keine Lust, dass sie selbst oder eines ihrer Kinder bei einem der nächsten Familienfeste unabsichtlich Star einer Filmaufführung wäre. Beleidigt packte der Mann seinen Camcorder weg. Das folgende Begrüßungslied brachten Sven und Dirk mit Anstand hinter sich, schließlich konnte niemand erwarten, dass sie den Text kannten, wenigstens sangen ihre Söhne begeistert mit und schlugen mit den anderen Kindern abwechselnd lautstark auf eine Trommel ein. Kaum war das Lied zu Ende, blickte der Junge mit dem Ohrring sich ratlos um und wusste offensichtlich nicht, was er mit der Trommel machen sollte. Die Mutter, deren Anblick Dirk weiterhin strikt mied, gab ihm einen Schubs zu der jungen Kursleiterin. „Na los, bring die Trommel zurück zur Turnlehrerin.“ Vor Dirks Auge erschien das Bild eines mittelalterlichen Fräuleins mit dickem Haarknoten am Hinterkopf. Er biss sich hart auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Sven hatte weniger Erfolg, ein gedämpftes Husten erklang neben Dirk und hätte ihn fast seine Beherrschung gekostet. Wenigstens würde es jetzt endlich mit dem eigentlichen Bewegungsprogramm losgehen. Wieder irrte Dirk sich. Eine Frau, die ihm bisher nicht aufgefallen war, ergriff das Wort. Irritiert runzelte er die Stirn. Wieso kam man zum Kinderturnen mit Blazer und hochhackigen Pantoffeln? Umständlich und ausschweifend begann die Frau von ihren Urlaubserlebnissen zu erzählen, während die Kinder bereits unruhig wurden. Fragend sah Tim seinen Vater an. „Sicher, schnapp dir Jan und lauf los. Das hier kann noch dauern.“ Dann beugte sich Dirk zu Sven rüber. „Meinst du es besteht danach noch Interesse an einem Vortrag über die Neuerungen bei den IFRS?“ „IF … was? Ist das Marks neues Gewehr?“ „Du bist wirklich ein Penner. Und so was arbeitet im Wirtschaftsdezernat. Die amerikanische Rechnungslegung, du Idiot.“ „Ach ja, die wurde ja umbenannt. Für solchen Schrott habe ich meine Leute.“ Dirk kniff die Augen drohend zusammen, was sein Freund jedoch grinsend ignorierte, stattdessen offen gähnte und sich reckte. Endlich war auch dieser Teil überstanden und es sollte ein großer Kreis gebildet werden. Soweit so gut, aber irgendwie ergab es sich, dass der Handy-offen-am-Gürtelträger direkt neben Dirk stand und ihm die Hand entgegenstreckte. Die tödliche Kälte in Dirks Gesicht schien ihn nicht abzuschrecken, aber anscheinend erkannte Sven den Nur-über-meine-Leiche-Blick richtig und trat schnell dazwischen. Sven schubste anscheinend unbeabsichtigt den Typen zur Seite und streckte der Kursleiterin freundlich lächelnd die Hand entgegen. Aufatmend lehnte sich Dirk etliche Minuten später gegen die Wand. Die Anfangsphase war überstanden, verschiedene Geräte aufgebaut und die Kinder beschäftigt. Noch zwanzig Minuten. Was sollte jetzt noch passieren? Jan balancierte begeistert über eine umgedrehte Bank, dicht gefolgt von Tim. Plötzlich stürmte der Sohn des Passatfahrers auf die beiden Kinder zu. Das Kind drängelte sich ungestüm dazwischen, sodass Tim ins Straucheln geriet und zu Boden gestürzt wäre, wenn Dirk nicht vorwärts gehechtet wäre und seinen Sohn im letzten Moment zu packen bekommen hätte. „Pascal, du muss schon aufpassen, wenn die beiden Jungs so langsam sind.“ Der Ton brachte Dirk zum Kochen, gedanklich sah er sich ausholen, den Mann zu Boden schicken und noch mal ordentlich zutreten. Ein fester Griff an seinem Arm beendete seine Fantasien. „Komm schon, reg dich ab. Für Wutanfälle bin ich zuständig.“ Dirk knurrte nur, schüttelte Svens Hand ab und beugte sich zu seinem Sohn runter. „Alles klar, Tim? Ich bin sofort wieder da. Sven passt solange auf, dass dir keine minderbemittelten Idioten zu nahe kommen.“ Eilig verließ Dirk den Raum. „Will sich der Typ vielleicht mit mir anlegen? Das kann er haben.“ Herablassend musterte Sven den Mann von oben bis unten. „Sagt Ihnen der Ausdruck Muy-Thai etwas?“ „Sollte er?“ „Das ist einer von fünf Kampfsportstilen, in denen mein Freund einen schwarzen Gürtel besitzt.“ Während der Mund des Mannes aufklappte und offen blieb, wandte Sven sich wortlos ab, griff nach einem am Boden liegenden Ball und warf ihn Jan zu. „Los, Jungs, eine Runde Fußball.“ „Ein Glück, dass es vorbei ist“, stellte Sven deutlich erleichtert fest, während er Jan seine Straßenschuhe anzog. „Ja“, Dirk sah sich prüfend um, aber da sie wohlweißlich das Gedrängel nach Beendigung der Stunde gemieden hatten, waren sie jetzt alleine. „Lieber drei bewaffnete Tangos, als noch mal diesen Scheiß. Gut, die Kinder hatten ihren Spaß, aber diese Leute Nee, ich könnte mich nur noch schütteln.“ Dirk atmete tief durch und strich sich die Haare zurück. „Sag mal, bin ich jetzt so ein arrogantes Arschloch geworden oder war das wirklich unterste Proletenschublade?“ „Letzteres. Komm, lass uns hier abhauen.“ Sie gingen eilig Richtung Parkplatz, blieben dann abrupt stehen, sahen sich an und begannen gleichzeitig zu lachen. Neben Svens BMW stehend, beobachteten sie mit betont unschuldigem Gesichtsausdruck, was sich um den Passat und den beiden blau- silbernen Streifenwagen herum abspielte. Breit grinsend kamen zwei uniformierte Polizisten auf sie zu, die Svens BMW garantiert als ziviles Polizeifahrzeug erkannt hatten. Der Größere von Beiden schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich schätze, ihr seid die Kollegen aus Hamburg. Hört zu, Leute, es reicht zukünftig, wenn ihr euch abstimmt und einen Streifenwagen von uns losjagt, wenn euch einer ärgert. Falls es euch freut: Die Kiste wird stillgelegt, an der funktioniert überhaupt nichts mehr - außer dem Aschenbecher. Außerdem haben wir im Kofferraum vier Autoradios gefunden, die dieser Penner bestimmt nicht gekauft hat. Mein Kollege wartete immer noch auf eine vernünftige Erklärung, aber ich glaube nicht, dass da heute noch was kommt.“ Dirk lächelte grimmig. „Ich auch nicht, nicht bei einem IQ, der knapp über Zimmertemperatur liegen dürfte. Danke für eure Hilfe. Der wird sich zukünftig überlegen, mit wem er sich anlegt. Komm; Sven, schneller Zwischenstopp am Bahnhof und dann fahren wir zu mir.“ „Was willst du am Bahnhof?“ „Einen Strauß Blumen kaufen, wenn ich mir vorstelle, dass Alex diesen Scheiß jede Woche erträgt, hat sie sich den wirklich verdient.“